Prof. Schulmeister beschäftigt sich wissenschaftlich mit dem Thema MOOC, seitdem es dieses Phänomen gibt, und hat jüngst das Buch „MOOCs – Offene Bildung oder Geschäftsmodell?“ herausgegeben. Dr. Frank Hoffmann und sein Team haben im letzten Jahr 25.000 Euro im Rahmen eines Wettbewerbs von Stifterverband und der Firma iversity gewonnen, um einen eigenen MOOC zu erstellen. Im April ist es so weit, dann startet der Kurs zum Thema „Faszination Kristalle und Symmetrie“, zu dem sich schon weit über 8.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der ganzen Welt angemeldet haben.
Herr Hoffmann, hatten Sie schon jemals so viele Studierende in einem Kurs? Was ist das für ein Gefühl?
FH: Nein, bisher hatte ich maximal 250 Studierende in einer Vorlesung. Es ist eine Mischung aus großer Freude und einem Staunen darüber, dass so viele Menschen aus aller Welt die Grundzüge der Kristallographie lernen wollen. Gleichzeitig ist mir etwas mulmig zumute, ob der großen Verantwortung und vielleicht auch der Frage, ob wir die Erwartungen erfüllen können.
Und wie aufwändig ist es, einen solchen Kurs vorzubereiten? Wie viele Stunden haben Sie investiert?
FH: Seit September 2013 arbeiten mein Kollege Michael Sartor und ich abends, nachts und am Wochenende – schätzungsweise werden es bei mir alleine bis zum Start des Kurses ca. 800 Stunden werden. Es beschränkt sich nicht nur auf die eigentliche Produktion. Spezielle Lehr- und andere Produktionsmittel müssen ausgesucht, bestellt werden, Presse- und Interview-Anfragen wollen beantwortet, die Rechte zur Verwendung bestimmter Bilder geklärt werden usw.
Können Sie einmal skizzieren, aus welchen Elementen Ihr Kurs besteht?
FH: Sehr gerne. Videos von ca. 5 Minuten Länge stellen ein wesentliches Element dar. Neben speziell erstellten 3D-Animationen werden wir viele Screencasts einsetzen, d.h. durch Audiokommentare ergänzte Aufzeichnungen von Bildschirmpräsentationen. Diese Lerneinheiten („Units“) werden von Quizfragen und Diskussionsangeboten begleitet.
Ferner gibt es kleinere Hausaufgaben, z.B.: „Sucht und bestimmt Symmetrien in Eurer Umgebung und ladet ein entsprechendes Foto hoch“. Wir freuen uns schon jetzt auf das bunteste und gleichzeitig symmetrischste Mosaik der Welt, das die User zusammentragen werden!
Und wie teuer ist die Produktion eines solchen Kurses?
FH: Das ist eine sehr interessante Frage, allein schon deshalb, weil sie für einen Offline-Kurs nie gestellt wird. Das hängt natürlich davon ab, welchen Aufwand man betreibt. Wenn man Live-Bilder von den Riesenkristallen aus der Höhle von Naica in Mexiko einfangen möchte, würde es etwas teurer als wenn man mit einem Makroobjektiv Schneekristalle an einer Fensterscheibe fotografiert.
Aber wir werden mit den 25.000 € für unseren 7-wöchigen Kurs gut auskommen, zumal unsere Arbeitszeit niemanden etwas kostet.
Und was war für Sie und Ihr Team der Anreiz, die Aufgabe anzugehen?
FH: Erstens die Lust, neue Techniken und Medien in der Lehre auszuprobieren. Zweitens die Anpassung der Lehrform an die „Digital Natives“ und die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse. Drittens kommt ein demokratie- bzw. bildungsidealistisches Motiv hinzu, nämlich Wissen frei – wenn auch zeitlich begrenzt – zur Verfügung zu stellen.
Worin sehen Sie im Vergleich zu einer Präsenzveranstaltung den besonderen Vorteil von MOOCs?
FH: Die Vorteile ergeben sich nicht unbedingt aus dem „massive“, sondern aus der Form: Zeitlich und örtlich absolut ungebunden zu sein, den Dozenten zu jeder Zeit anhalten zu können, schwierigere Passagen beliebig wiederholen zu können, die Möglichkeit mit anderen im begleitenden Diskussionsforum über die Inhalte diskutieren zu können usw.
Die Präsenzveranstaltung könnte sich darüber hinaus gemäß des Modells des „flipped classrooms“ weiterentwickeln: Die Studierenden sehen sich die Lehrinhalte zunächst im Vorwege online an und in der Folgewoche findet ein Intensivseminar statt, in dem über den Inhalt diskutiert wird, verbliebene Fragen zum Stoff beantwortet werden etc.
Herr Schulmeister, wie erklären Sie sich die Faszination von MOOCs? Warum sprechen manche dabei von einer Bildungsrevolution?
RS: Die Faszination rührt ursprünglich offenbar aus einem Zusammentreffen mehrerer Gesichtspunkte: Erstens waren sie „offen“ im Sinne von ohne Bildungsvoraussetzungen und zweitens offen im Sinne von kostenlos. Technologieorientierte Bildungsinteressierte stellten auch sofort eine Assoziation zu Open Access und Open Source her.
Als weiteres Moment der Attraktion seitens der Teilnehmenden kam die Magie der großen Namen hinzu: Die MOOC-Provider kamen von Stanford, Harvard und MIT und sie versprachen Kursangebote von Elite-Hochschulen und renommierten Professoren.
Der Stanford-Professor Sebastian Thrun, der 2012 die MOOC-Plattform Udacity gründete, strebte zunächst Studierende in amerikanischen Hochschulen als Publikum an, weil sie hohe Studiengebühren zahlen müssen und sich dadurch hoch verschulden. Er definierte seine Ziele als Demokratisierung der Bildung – im Sinne von offenem Zugang – und freier, kostenloser Bildung.
Er traute der Online-Lehre eine solche Wirkung zu, dass er sich zu der Behauptung verstieg, in fünfzig Jahren würde es nur noch 10 Hochschulen in den USA geben. Daphne Koller von der MOOC-Plattform Coursera träumte in ihrer TED-Lecture davon, Unterprivilegierten in aller Welt qualifizierte Bildungsangebote zu bieten.
Ein weiteres Moment der Attraktion kam hinzu: In den Reden der MOOC-Anbieter wird deutlich, dass sie nach besonders begabten Studierenden Ausschau halten. Das mag einige Teilnehmer besonders motiviert haben, an den Kursen teilzunehmen und sich in den Foren zu beteiligen.
Und warum kommt es vermehrt zu Kritik an dem Modell?
RS: Ein auffälliger Kritikpunkt sind die hohen Abbrecherquoten von über 90%. Nun muss man allerdings hinzufügen, dass etwa die Hälfte derjenigen, die sich für einen Kurs anmeldeten, gar nicht die Absicht hatte, diesen Kurs wirklich zu beenden. Viele schauten sich nur die erste Lektion an und brachen dann ab. Etliche hatten ohnehin nur vor, die Lektionen zu beobachten ohne die Hausaufgaben zu machen und sich den Tests und Prüfungen zu unterziehen. Durchschnittlich haben nur 3% bis 9% der Teilnehmer den Kurs ordnungsgemäß abgeschlossen.
Es bleibt aber eine größere Menge von Teilnehmern, die anfangs die Aufgaben und Tests mitmachen und dann scheitern. Diese scheitern vermutlich, weil es keine tutorielle Unterstützung gibt. Das sollte ein ernsthafter Kritikpunkt sein, denn diese Lernenden könnten im Präsenzunterricht aufgefangen werden.
Didaktisch betrachtet sind die MOOCs keine wirkliche Innovation, denn sie beruhen weitgehend auf einem Lehrmodell, das behavioristische Wurzeln hat wie der Keller-Plan oder das Unterrichtsmodell in „Conditions of Learning“ von Robert M. Gagné aus dem Jahr 1965.
Die von deutschen Hochschulen vielfach praktizierten Vorlesungsaufzeichnungen, denen ein interaktives Seminar zur Seite gestellt wird – was man allgemein als „flipped classroom“ bezeichnet –, haben die Essenz der MOOCs bereits verwirklicht.
Die Kriterien guter Lehre werden nicht durch die Videoübertragung erfüllt oder die zwischen die Videoschnipsel gestreuten Multiple-choice-Tests, sondern die wahre Herausforderung guten Unterrichts besteht in der gekonnten Durchführung eines interaktiven Seminars. Dafür ist mehr Hochschullehrerausbildung erforderlich und mehr didaktische Phantasie angesagt.
Derzeit werden die MOOCs – zumindest in Deutschland – kostenfrei angeboten: Wer finanziert das? Was ist das Geschäftsmodell dahinter?
RS: In den USA wurden die Anfänge durch Risikokapital finanziert. Das Risikokapital, auf dem die Initiativen aufbauten, musste durch Geschäftsmodelle ersetzt werden. Ein Teil der Kosten wurden den teilnehmenden Hochschulen aufgehalst: Bei Coursera kostet ein Kurs für die teilnehmende Hochschule 150.000 US-Dollar, bei edX 400.000 US-Dollar und bei Wiederholung weitere 50.000 US-Dollar.
Zunächst glaubte man angesichts der hohen Teilnehmerzahlen mit Prüfungsgebühren auskommen zu können. Das erwies sich als Trugschluss. Dann wollte man Studierende an Arbeitgeber vermitteln. Auch das brachte nicht genug ein.
Inzwischen tritt eine Transition zu Geschäftsmodellen ein: Udacity entwickelt beispielweise kostenpflichtige Informatik-Studiengänge in Kooperation mit San Jose State und Georgia Tech. Ab 2014 bietet Udacity kostenpflichtige Weiterbildungskurse an. edX richtet die kostenpflichtige XSeries ein und Coursera versucht, in der Lehrerausbildung Profit zu machen.
Dies alles zur Enttäuschung der Interessierten, die ihre Hoffnungen auf die offene Bildung richteten. Ob aber diese Geschäftsmodelle erfolgreich sein werden, wage ich zu bezweifeln. Die hohen Abbrecherquoten veranlassten Udacity, eine Betreuung durch Mentoren anzubieten, die allerdings von den Teilnehmern zu bezahlen ist. Mittlerweile gibt es allein in den USA etwa 20 MOOC-Provider, die meistens auf gemeinsame Geschäftsmodelle mit den Hochschulen hoffen.
Was versprechen sich manche Hochschulen, die sich an MOOC-Plattformen wie Udacity oder Coursera engagieren und wie in den USA mittlerweile ganze Studiengänge als MOOC konzipieren, davon?
RS: Aufgrund der Finanzkrise in den USA und der Einbußen in ihren Stiftungsvermögen versprechen sich amerikanische Hochschulen eine Kostenersparnis und Kapazitätsgewinnung: mehr Kurse, um Engpässe zu überwinden, und mehr Studierende, trotz geringerer Kosten. Das zeigen die Initiativen von Politikern in den Staaten Kalifornien und Florida, welche die Hochschulen zu MOOCs verpflichten wollten. Die Kalifornische Initiative scheiterte, weil sich die California Faculty Association dagegen ausgesprochen hatte.
Es sind nur wenige Universitäten in den USA, deren Professoren oder Professorinnen sich mit einem MOOC beteiligen. Die große Menge der Universitäten verhält sich abwartend bis negativ. Die vielen Colleges sind so gut wie gar nicht beteiligt, obwohl sie schon seit etwa 15 Jahren die vielen Online-Kurse für kleine Gruppen tragen, deren Einschreibzahlen bei fast 7 Millionen pro Jahr liegen.
In Deutschland sind die Motive, einen MOOC anzubieten, unterschiedlich. Ich kann mir vorstellen, dass Einrichtungen wie das Hasso-Plattner-Institut in Potsdam ihr MOOC-Angebot als Werbung um Studierende verstehen, vor allem, wenn um Studierende aus dem Ausland geworben wird.
Hochschulen, die ein besonderes Profil vertreten und bewerben, wie z.B. die Leuphana Universität, können die Aufmerksamkeit, die sie durch ein MOOC bei Schülern und Studienbewerbern erhalten, gut gebrauchen.
Auch kleinere Hochschulen in eher ländlichen Gegenden, die mit den großen Universitäten in den großen Städten konkurrieren, können so ihr Profil aufbessern. Ansonsten sehe ich in Deutschland keinen Grund, in großem Maßstab MOOCs (mit Tests, Prüfungen und Zertifikaten) anzubieten, die eher von Hochschulabsolventen als Studierenden besucht und von Alumni als Weiterbildungsmaßnahme betrachtet werden.
Herrscht ein Missverständnis darüber, wer eigentlich primäre Nutzer von MOOCs sind? Studierende, die nach einem Abschluss bzw. Zertifikat streben, oder Professionals, die sich weiterbilden möchten?
RS: So kann man es sehen. Das erste Ziel, die Verbilligung der Ausbildung, zielte auf die Studierenden in den USA als Adressaten, aber diese Studierenden wurden gar nicht erreicht. Nur 3% der in den amerikanischen Hochschulen regulär eingeschriebenen Studierenden haben an einem MOOC teilgenommen.
Stattdessen setzte sich das Publikum der MOOCs zu über 70% aus Berufstätigen zusammen, die zu 80% bereits einen Bachelor-Abschluss besitzen und zu über 44% einen Master oder eine Promotion abgeschlossen haben. MOOCs wurden demnach von gebildeten und gut situierten Personen (vorwiegend Männern) als Weiterbildung begriffen.
Um zu verstehen, warum sich die amerikanischen Studierenden nicht für die MOOCs interessieren, muss man wissen, dass die amerikanischen Hochschulen in der Regel nur wenige Studierende aufnehmen und diese in vorwiegend kleinen Seminargruppen unterrichten. Für die Studierenden spielt der Kontakt zum Lehrkörper daher eine ganz wichtige Rolle.
Nach zwei Jahren MOOC-Entwicklung ist es gegen Ende 2013 übrigens zu einer Wende zumindest bei Sebastian Thrun von Udacity gekommen. Die Abbrecherquoten und die Provenienz der Teilnehmer veranlassten ihn, sein Bildungsziel komplett zu überdenken. Dem Journalisten Max Chafkin teilte er mit, dass es schmerzhaft war, als er realisierte, dass seine Kurse nicht den eigenen Verheißungen entsprachen und nicht genügend Leute ansprachen.
Herr Hoffmann, an wen richtet sich Ihr MOOC?
FH: Zunächst mal an alle Studierenden, die in ihrem Studiengang mit Fragen der Symmetrie von Festkörpern konfrontiert werden, sei es aus der Physik, der Chemie, den Material- und Nanowissenschaften, der Metallurgie, der Kristallographie, Geologie oder der Mineralogie. Darüber hinaus aber auch an alle interessierten „Laien“, von der Schülerin über den begeisterten Mineralsammler bis zur Juwelierin oder Kunstschmiedin, die sich weiterbilden möchte.
Kontrovers diskutiert wird auch die Frage der Anrechenbarkeit von Leistungen in MOOCs: Wie stehen Sie dazu, Credits zu vergeben, die im Rahmen eines Studiengangs anrechenbar sind?
FH: Sofern eine vergleichbare Prüfung stattfindet und erfolgreich abgeschlossen wird, sehe ich darin überhaupt kein Problem. Das kann physikalisch vor Ort an der Uni oder einem speziell dafür geschaffenen Prüfungszentrum geschehen, oder auch – technische Machbarkeit und Ausschluss von Betrugsmöglichkeiten vorausgesetzt – online.
Herr Schulmeister, wo sehen Sie die Problematik bei der Anrechenbarkeit von Credits in MOOCs?
RS: Es gibt online bisher kein verlässliches Prüfungsmodell. Die Universitäten, die sich überhaupt zur Anerkennung der Credits entschlossen hatten, verlangen eine erneute Prüfung vor Ort.
Davon abgesehen: Es hatten sich drei US-amerikanische Universitäten bereit erklärt, die Anerkennung der Zertifikate aus den MOOCs zu übernehmen. Bisher hat jedoch kein Teilnehmer die Anerkennung der Zertifikate als Credit hours bei amerikanischen Hochschulen beantragt. Das erstaunt nicht angesichts der Herkunft und des Status der bisherigen Interessenten, die darauf nicht angewiesen sind.
Die meisten MOOCs sind eine Art Einführungskurs, bis auf Informatik von Udacity bildet sich noch kein ganzer Studiengang ab. Die 600 Kurse von Coursera bieten völlig gemischte populäre Themen wie im Studium Generale.
Herr Hoffmann, was wünschen Sie sich für die Zukunft von MOOCs?
FH: Ich wünsche mir, dass die Unis ihre eigenen MOOC-Plattformen erschaffen und so MOOCs völlig unabhängig von eventuellen kommerziellen Interessen durchgeführt werden können! Zweitens, dass die Unis sich nicht weiter davor fürchten, universitäre Inhalte allen Menschen zugänglich zu machen. Drittens, dass sich eine Wandlung vom MOOC zum POOC vollzieht (Personalized OOC), denn Masse ist nicht unbedingt notwendig. Viertens, dass MOOCs bzw. POOCs so selbstverständlich wie MP3s werden.
Und wie sieht es bei Ihnen aus, Herr Schulmeister?
RS: MOOCs wollten mehr sein als nur eine neue Unterrichtsmethode, sie wollten die Hochschulen verändern oder gar abschaffen. Eine so plötzlich auftauchende Innovation muss als Element in einem System, in diesem Fall dem amerikanischen Bildungssystem, gesehen werden. Nur dann ist der beschränkte Wert der MOOCs zu erkennen und zu verstehen, warum dieser Coup nicht gelingen konnte.
Stattdessen werden die MOOCs als eine Unterrichtsmethode unter vielen anderen enden. Die intervallmäßige Unterbrechung durch Testfragen in den MOOCs mag kurzfristig hilfreich für Einzelne sein, um die Aufmerksamkeit zu erhalten, führt langfristig aber nur zur Verstärkung eines extrinsisch stimulierten und unselbständigen Lernverhaltens.
Aufzeichnungen von Vorlesungen reichen im Grunde für die Unterstützung der Lernenden im Präsenzstudium. Im Vergleich mit Online-Kursen schneidet die interaktive Präsenzlehre in mancher Hinsicht besser ab.
Offenbar haben wir uns in der pädagogischen Forschung zu wenig mit den Vorteilen des Präsenzunterrichts befasst.
Das Gespräch führte Giselind Werner.