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Prof. Dr. Stefan Oeter
Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völkerrecht und ausländisches Öffentliches Recht
t. 040.42838-4565
e. stefan.oeter"AT"jura.uni-hamburg.de
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Was ist das Ziel der Volksabstimmung?
Beim Referendum entscheiden insgesamt rund 60 Millionen wahlberechtigte Türkinnen und Türken darüber, die Architektur der türkischen Verfassung grundlegend zu verändern: Das Ziel ist, den Parlamentarismus abzuschaffen und ein Präsidialsystem einzuführen. Das bedeutet, die Befugnisse des Präsidenten auszuweiten und das Amt des Ministerpräsidenten abzuschaffen.
Als Vorbild der Reformen verweist die Regierungspartei „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“, AKP, auf die USA. Im Unterschied zum amerikanischen Präsidialsystem würde der türkische Präsident aber nicht nur die Exekutive kontrollieren, sondern als Chef der Mehrheitspartei auch das Parlament.
Ein weiterer Unterschied ist: Der Haushalt in den USA wird vom Kongress verabschiedet, in der Türkei hätte auch dieses Recht der Präsident. Im Ergebnis würde der Präsident sogar die Justiz kontrollieren. Die Gewaltenteilung wäre damit im Kern aufgehoben.
Gibt es einen Grund, warum das Referendum jetzt zur Abstimmung steht?
Diese innenpolitische Entwicklung hat sich in den vergangenen Jahren abgezeichnet. Der Putschversuch im Juli 2016, den die Regierung der Gülen-Bewegung anlastet, war die ideale Gelegenheit, dieses Vorhaben umzusetzen. Zudem gibt die Notstandsgesetzgebung Erdoğan Instrumente in die Hand, Mehrheiten für die Verfassungsreform zu finden, die er normalerweise nicht gehabt hätte.
So hat die fast völlige Ausschaltung einer kritischen Presse und die Gleichschaltung der Fernsehsender zu einer extrem einseitigen Berichterstattung über das Referendum geführt – mit dem Effekt, dass viele Türken gar nicht genau wissen, worum es bei dem Referendum inhaltlich wirklich geht. Selbst im Parlamentsfernsehen wurde abgeschaltet, wenn Abgeordnete der Opposition Redezeit hatten.
Die Stärkung des Staatspräsidenten und die gleichzeitige Beschränkung des Parlamentes sind umstritten. Was sind die Argumente der Befürworter?
Befürwortern der Verfassungsänderung zufolge braucht die Türkei einen starken Staat. Nur so könne den internen Streitereien nach dem Putschversuch beigekommen werden. Auch die Bedrohungen von außen würden nach einer starken, einheitlichen Staatsgewalt verlangen.
Was befürchten die Gegner der Reformen?
Die Gegner der Reformen befürchten eine autoritäre Ein-Mann-Diktatur, in der es keinerlei demokratischen Prozess und keine freie Zivilgesellschaft mehr gibt: einen Willkürstaat. Sie befürchten etwa, das neue System werde demokratische Normen wie Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit des Parlaments und der Gerichte aushöhlen. So, wie die neue Verfassung derzeit angelegt ist, eine sehr reale Angst.
Zuletzt hat die Venedig-Kommission – ein Gremium von hochrangigen Richtern und Verfassungsjuristen, die Rechtsreformprojekte in Europa begutachten – deutlich gemacht, dass die Reform den Weg in einen autoritären Staat ebne. Ein Kritikpunkt der Kommission: Zu einer Zeit, in der mehr als die Hälfte der zweitgrößten Partei des Landes, der Republikanischen Volkspartei, CHP, im Gefängnis sitzt, in der es praktisch keine Versammlungs- und Meinungsfreiheit mehr gibt, die Presse gleichgeschaltet ist und das Volk mit einseitiger Propaganda überzogen wird, könne keine Verfassungsänderung vorgenommen werden.
Was ist die Osmanische Nostalgie und welche Rolle spielt sie beim Referendum?
Der Begriff bezeichnet eine verklärte Erinnerung an das Osmanische Reich, das nach seinem Zusammenbruch 1923 von der Türkischen Republik abgelöst wurde. Diese nostalgische Bewegung in Teilen der türkischen Gesellschaft ist politisch extrem wirkungsmächtig. Kritiker bezeichnen Präsident Erdoğan und seinen Vorgänger im Amt des Ministerpräsidenten, Ahmet Davutoğlu, als Anhänger des sogenannten Neo-Osmanismus, die eine Rückbesinnung der Türkei auf ihre alte osmanische Einflusssphäre anstreben.
Allerdings gibt diese Argumentation das osmanische Erbe meiner Meinung nach verkürzt wieder, denn viele Züge der heutigen türkischen Verfassung finden sich in den Reformbewegungen des Osmanischen Reiches wieder: Der aktuelle türkische Parlamentarismus ist eigentlich eine Fortsetzung spätosmanischer Reformen. Erst das Präsidialsystem würde einen Bruch mit der osmanischen Vergangenheit bedeuten.
Türkische Politiker wollten auch in Deutschland für die Reformen werben. Welche Bedeutung haben die sogenannten Auslandstürkinnen und -türken für die Politik Erdoğans?
Die Türkei ist eine tief gespaltene Gesellschaft. Das lässt sich beispielsweise an den jüngsten Wahlen ablesen, bei denen die AKP nur ungefähr die Hälfte der Bevölkerung hinter sich bringen konnte. Bei diesen zum Teil sehr knappen Mehrheiten spielen die Türkinnen und Türken, die im Ausland leben, eine wichtige Rolle.
In Deutschland ist der Anteil der AKP-Anhängerinnen und -Anhänger deutlich höher als in der Türkei. Daher sind die Stimmen der etwa 1,4 Millionen wahlberechtigten Menschen mit türkischem Pass in Deutschland für die AKP sehr wichtig.
Um die Wahlkampfauftritte gab es in den vergangenen Wochen heftige Diskussionen. Warum ist das Werben für die Volksabstimmung außerhalb der Türkei so umstritten?
Diese Wahlwerbung hat das diplomatische Protokoll verletzt. Denn die Politiker sind als Regierungsmitglieder mit quasi diplomatischen Dienstpässen eingereist – was eigentlich eine amtliche Mission voraussetzt, bei der sie das Programm mit dem Gastland absprechen müssten.
Im Land angekommen, haben sie sich dann darauf berufen, dass sie als Privatperson und ohne Absprache mit dem Gastland politisch aktiv werden wollen. Sie nutzen also die Erleichterungen ihres politischen Amtes – so müssen sie beispielsweise kein Visum beantragen – um sich vermeintlich privat zu äußern. Hier findet eine merkwürdige Vermischung statt.
Länder wie Deutschland, die Niederlande und Dänemark, in denen viele Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit leben, ist das sauer aufgestoßen. Die Niederlande haben schließlich rechtliche Konsequenzen beschlossen und die Einreise der Politiker verboten.