UHH Newsletter

April 2017, Nr. 95

IN­TER­VIEW

Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Stefan Oeter. Foto: privat

Rechts­wis­sen­schaft­ler Prof. Dr. Ste­fan Oeter. Foto: pri­vat

Ver­fas­sungs­re­form in der Tür­kei: In­ter­view mit Rechts­wis­sen­schaft­ler Prof. Dr. Ste­fan Oeter

Seit dem 27. März 2017 bil­de­ten sich lange Schlan­gen vor den tür­ki­schen Ge­ne­ral­kon­su­la­ten in Deutsch­land – wie etwa der Blick aus dem Ver­wal­tungs­ge­bäu­de im Mit­tel­weg in die­sen Tagen zeig­te. Der Grund: Mehr als 1,4 Mil­lio­nen tür­ki­sche Staats­bür­ge­rin­nen und Staats­bür­ger in Deutsch­land waren bis zum 9. April auf­ge­ru­fen, über eine Än­de­rung der tür­ki­schen Lan­des­ver­fas­sung ab­zu­stim­men. Im In­ter­view er­läu­tert Ver­fas­sungs-​ und Völ­ker­recht­ler Prof. Dr. Ste­fan Oeter, worum es bei dem Re­fe­ren­dum genau geht, wel­che Rolle der Putsch­ver­such spielt und warum die Tür­kin­nen und Tür­ken in Deutsch­land für Prä­si­dent Recep Tayy­ip Erdoğans Re­form­plä­ne be­son­ders wich­tig sind.

Was ist das Ziel der Volks­ab­stim­mung?

Beim Re­fe­ren­dum ent­schei­den ins­ge­samt rund 60 Mil­lio­nen wahl­be­rech­tig­te Tür­kin­nen und Tür­ken dar­über, die Ar­chi­tek­tur der tür­ki­schen Ver­fas­sung grund­le­gend zu ver­än­dern: Das Ziel ist, den Par­la­men­ta­ris­mus ab­zu­schaf­fen und ein Prä­si­di­al­sys­tem ein­zu­füh­ren. Das be­deu­tet, die Be­fug­nis­se des Prä­si­den­ten aus­zu­wei­ten und das Amt des Mi­nis­ter­prä­si­den­ten ab­zu­schaf­fen.

Als Vor­bild der Re­for­men ver­weist die Re­gie­rungs­par­tei „Par­tei für Ge­rech­tig­keit und Auf­schwung“, AKP, auf die USA. Im Un­ter­schied zum ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­di­al­sys­tem würde der tür­ki­sche Prä­si­dent aber nicht nur die Exe­ku­ti­ve kon­trol­lie­ren, son­dern als Chef der Mehr­heits­par­tei auch das Par­la­ment.

Ein wei­te­rer Un­ter­schied ist: Der Haus­halt in den USA wird vom Kon­gress ver­ab­schie­det, in der Tür­kei hätte auch die­ses Recht der Prä­si­dent. Im Er­geb­nis würde der Prä­si­dent sogar die Jus­tiz kon­trol­lie­ren. Die Ge­wal­ten­tei­lung wäre damit im Kern auf­ge­ho­ben.

Gibt es einen Grund, warum das Re­fe­ren­dum jetzt zur Ab­stim­mung steht?

Diese in­nen­po­li­ti­sche Ent­wick­lung hat sich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren ab­ge­zeich­net. Der Putsch­ver­such im Juli 2016, den die Re­gie­rung der Gü­len-​Be­we­gung an­las­tet, war die idea­le Ge­le­gen­heit, die­ses Vor­ha­ben um­zu­set­zen. Zudem gibt die Not­stands­ge­setz­ge­bung Erdoğan In­stru­men­te in die Hand, Mehr­hei­ten für die Ver­fas­sungs­re­form zu fin­den, die er nor­ma­ler­wei­se nicht ge­habt hätte.

So hat die fast völ­li­ge Aus­schal­tung einer kri­ti­schen Pres­se und die Gleich­schal­tung der Fern­seh­sen­der zu einer ex­trem ein­sei­ti­gen Be­richt­er­stat­tung über das Re­fe­ren­dum ge­führt – mit dem Ef­fekt, dass viele Tür­ken gar nicht genau wis­sen, worum es bei dem Re­fe­ren­dum in­halt­lich wirk­lich geht. Selbst im Par­la­ments­fern­se­hen wurde ab­ge­schal­tet, wenn Ab­ge­ord­ne­te der Op­po­si­ti­on Re­de­zeit hat­ten.

Die Stär­kung des Staats­prä­si­den­ten und die gleich­zei­ti­ge Be­schrän­kung des Par­la­men­tes sind um­strit­ten. Was sind die Ar­gu­men­te der Be­für­wor­ter?

Be­für­wor­tern der Ver­fas­sungs­än­de­rung zu­fol­ge braucht die Tür­kei einen star­ken Staat. Nur so könne den in­ter­nen Strei­te­rei­en nach dem Putsch­ver­such bei­ge­kom­men wer­den. Auch die Be­dro­hun­gen von außen wür­den nach einer star­ken, ein­heit­li­chen Staats­ge­walt ver­lan­gen.

Was be­fürch­ten die Geg­ner der Re­for­men?

Die Geg­ner der Re­for­men be­fürch­ten eine au­to­ri­tä­re Ein-​Mann-​Dik­ta­tur, in der es kei­ner­lei de­mo­kra­ti­schen Pro­zess und keine freie Zi­vil­ge­sell­schaft mehr gibt: einen Will­kürstaat. Sie be­fürch­ten etwa, das neue Sys­tem werde de­mo­kra­ti­sche Nor­men wie Ge­wal­ten­tei­lung und die Un­ab­hän­gig­keit des Par­la­ments und der Ge­rich­te aus­höh­len. So, wie die neue Ver­fas­sung der­zeit an­ge­legt ist, eine sehr reale Angst.

Zu­letzt hat die Ve­ne­dig-​Kom­mis­si­on – ein Gre­mi­um von hoch­ran­gi­gen Rich­tern und Ver­fas­sungs­ju­ris­ten, die Rechts­re­form­pro­jek­te in Eu­ro­pa be­gut­ach­ten – deut­lich ge­macht, dass die Re­form den Weg in einen au­to­ri­tä­ren Staat ebne. Ein Kri­tik­punkt der Kom­mis­si­on: Zu einer Zeit, in der mehr als die Hälf­te der zweit­größ­ten Par­tei des Lan­des, der Re­pu­bli­ka­ni­schen Volks­par­tei, CHP, im Ge­fäng­nis sitzt, in der es prak­tisch keine Ver­samm­lungs-​ und Mei­nungs­frei­heit mehr gibt, die Pres­se gleich­ge­schal­tet ist und das Volk mit ein­sei­ti­ger Pro­pa­gan­da über­zo­gen wird, könne keine Ver­fas­sungs­än­de­rung vor­ge­nom­men wer­den.

Was ist die Os­ma­ni­sche Nost­al­gie und wel­che Rolle spielt sie beim Re­fe­ren­dum?

Der Be­griff be­zeich­net eine ver­klär­te Er­in­ne­rung an das Os­ma­ni­sche Reich, das nach sei­nem Zu­sam­men­bruch 1923 von der Tür­ki­schen Re­pu­blik ab­ge­löst wurde. Diese nost­al­gi­sche Be­we­gung in Tei­len der tür­ki­schen Ge­sell­schaft ist po­li­tisch ex­trem wir­kungs­mäch­tig. Kri­ti­ker be­zeich­nen Prä­si­dent Erdoğan und sei­nen Vor­gän­ger im Amt des Mi­nis­ter­prä­si­den­ten, Ahmet Da­vu­toğlu, als An­hän­ger des so­ge­nann­ten Neo-​Os­ma­nis­mus, die eine Rück­be­sin­nung der Tür­kei auf ihre alte os­ma­ni­sche Ein­fluss­sphä­re an­stre­ben.

Al­ler­dings gibt diese Ar­gu­men­ta­ti­on das os­ma­ni­sche Erbe mei­ner Mei­nung nach ver­kürzt wie­der, denn viele Züge der heu­ti­gen tür­ki­schen Ver­fas­sung fin­den sich in den Re­form­be­we­gun­gen des Os­ma­ni­schen Rei­ches wie­der: Der ak­tu­el­le tür­ki­sche Par­la­men­ta­ris­mus ist ei­gent­lich eine Fort­set­zung spätos­ma­ni­scher Re­for­men. Erst das Prä­si­di­al­sys­tem würde einen Bruch mit der os­ma­ni­schen Ver­gan­gen­heit be­deu­ten.

Tür­ki­sche Po­li­ti­ker woll­ten auch in Deutsch­land für die Re­for­men wer­ben. Wel­che Be­deu­tung haben die so­ge­nann­ten Aus­land­stür­kin­nen und -​tür­ken für die Po­li­tik Erdoğans?

Die Tür­kei ist eine tief ge­spal­te­ne Ge­sell­schaft. Das lässt sich bei­spiels­wei­se an den jüngs­ten Wah­len ab­le­sen, bei denen die AKP nur un­ge­fähr die Hälf­te der Be­völ­ke­rung hin­ter sich brin­gen konn­te. Bei die­sen zum Teil sehr knap­pen Mehr­hei­ten spie­len die Tür­kin­nen und Tür­ken, die im Aus­land leben, eine wich­ti­ge Rolle.

In Deutsch­land ist der An­teil der AKP-​An­hän­ge­rin­nen und -​An­hän­ger deut­lich höher als in der Tür­kei. Daher sind die Stim­men der etwa 1,4 Mil­lio­nen wahl­be­rech­tig­ten Men­schen mit tür­ki­schem Pass in Deutsch­land für die AKP sehr wich­tig.

Um die Wahl­kampf­auf­trit­te gab es in den ver­gan­ge­nen Wo­chen hef­ti­ge Dis­kus­sio­nen. Warum ist das Wer­ben für die Volks­ab­stim­mung au­ßer­halb der Tür­kei so um­strit­ten?

Diese Wahl­wer­bung hat das di­plo­ma­ti­sche Pro­to­koll ver­letzt. Denn die Po­li­ti­ker sind als Re­gie­rungs­mit­glie­der mit quasi di­plo­ma­ti­schen Dienst­päs­sen ein­ge­reist – was ei­gent­lich eine amt­li­che Mis­si­on vor­aus­setzt, bei der sie das Pro­gramm mit dem Gast­land ab­spre­chen müss­ten.

Im Land an­ge­kom­men, haben sie sich dann dar­auf be­ru­fen, dass sie als Pri­vat­per­son und ohne Ab­spra­che mit dem Gast­land po­li­tisch aktiv wer­den wol­len. Sie nut­zen also die Er­leich­te­run­gen ihres po­li­ti­schen Amtes – so müs­sen sie bei­spiels­wei­se kein Visum be­an­tra­gen – um sich ver­meint­lich pri­vat zu äu­ßern. Hier fin­det eine merk­wür­di­ge Ver­mi­schung statt.

Län­der wie Deutsch­land, die Nie­der­lan­de und Dä­ne­mark, in denen viele Men­schen mit tür­ki­scher Staats­an­ge­hö­rig­keit leben, ist das sauer auf­ge­sto­ßen. Die Nie­der­lan­de haben schließ­lich recht­li­che Kon­se­quen­zen be­schlos­sen und die Ein­rei­se der Po­li­ti­ker ver­bo­ten.

Das In­ter­view führ­te Sarah Ba­tel­ka
 


Kon­takt:

Prof. Dr. Ste­fan Oeter
Lehr­stuhl für Öf­f­ent­li­ches Recht, Völ­ker­recht und aus­län­di­sches Öf­f­ent­li­ches Recht

t. 040.42838-​4565
e. ste­fan.oeter"AT"jura.uni-​ham­burg.de

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