Das neue Hamburger Wahlrecht ist im Vorfeld oft kritisiert worden. Es sei zu kompliziert und würde die Wählerinnen und Wähler überfordern, hieß es und die niedrige Wahlbeteiligung schien den Kritikern recht zu geben. Wie die Hamburger aber tatsächlich zu den neuen Abstimmmöglichkeiten stehen, hat Prof. Dr. Cord Jakobeit mit seinem Team vom Institut für Politische Wissenschaft untersucht. Die Ergebnisse der Umfrage und was ihn selbst am meisten überrascht hat, verrät er im Interview.
Die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Hamburg konnten bei der Bürgerschaftswahl im Februar insgesamt 20 Kreuze machen. Fühlten sich die Wählerinnen und Wähler damit überfordert?
Nein, das kann man so nicht sagen. Der in unseren Fragebogen integrierte Wissenstest hat ergeben, dass rund 95 Prozent der Wähler und Wählerinnen mit der Anzahl der zu vergebenden Stimmen und mit den grundsätzlichen Möglichkeiten des Kumulierens (Anhäufens) und Panaschierens (Aufteilens) vertraut waren. Bei der Bevölkerung ist das neue Wahlrecht offensichtlich angekommen.
Das gilt im Übrigen auch für die Nichtwähler, auch wenn bei ihnen der Wissensstand erwartungsgemäß niedriger ausfiel. Vier Fünftel von ihnen wussten, dass Stimmen angehäuft und verteilt werden können, aber nur knapp die Hälfte konnte auf Anhieb die richtige Anzahl der zur Verfügung stehenden Stimmen nennen.
Kannten sich die Wähler denn tatsächlich mit all den Kandidaten aus, denen sie ihre Stimme geben konnten?
Nein, und das ist sicher eine der Überraschungen der Studie. Die Wähler kannten sich mit dem Wahlrecht gut aus, aber die Kandidaten auf den Wahlzetteln kannten sie kaum. Mehr als ein Viertel aller Wähler kannte nicht einen einzigen Kandidaten auf der Wahlkreisliste. Und bei den Nichtwählern waren die Wissenslücken in Bezug auf die Kandidaten noch größer.
Knapp 40 Prozent der Nichtwähler kannten nicht einmal Olaf Scholz oder Christoph Ahlhaus, die beiden Spitzenkandidaten der zwei großen Parteien. Hamburg gehört mit seinem stärker personalisierten Wahlrecht zu den Vorreitern in Sachen Bürgerbeteiligung in Deutschland, aber bei der Umsetzung der darin enthaltenen Möglichkeiten ist ganz sicher „noch Luft nach oben“.
Was sagt Ihre Studie: War das kompliziertere Wahlrecht der Grund für die geringe Wahlbeteiligung?
Zwar empfindet über die Hälfte der Nichtwähler das neue Wahlrecht als zu kompliziert, aber für knapp drei Viertel von ihnen war das neue Wahlrecht kein Grund für die Nichtteilnahme an der Wahl. Etwa 85 Prozent der Nichtwähler nannten als Antwort auf die Frage, was sich ändern müsste, die Parteien und ihre Kandidaten. Sinkende Wahlbeteiligungen und zunehmende Politikverdrossenheit gehen nicht in erster Linie auf das Wahlrecht zurück.
Wir haben es bei der sinkenden Wahlbeteiligung mit einem Phänomen zu tun, dass – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bei fast allen Wahlen in der Bundesrepublik in den letzten drei Jahrzehnten zu beobachten ist.
Welche Ergebnisse der Studie haben Sie schließlich am meisten überrascht?
Da es viele Wahlbefragungen, aber nur wenige Befragungen von Nichtwählern gibt, waren für mich die letztgenannten Befunde besonders interessant. Und dass nach der intensiven Debatte über das Wahlrecht auch die Nichtwähler das neue Wahlrecht mehrheitlich vorziehen, überrascht ebenso, wie der geringe Kenntnisstand der Wähler über die Kandidaten. Dagegen hat mich überhaupt nicht überrascht, dass Unwissenheit und Wahlverzicht in den sozial schwächeren Stadtteilen erheblich höher sind als in den besser situierten Wohngegenden.
Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit der Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit?
Wir hatten bereits nach der Wahl 2008 für den Verfassungs- und Bezirksausschuss der Bürgerschaft eine kleine Studie zum neuen Wahlrecht in Hamburg durchgeführt. Es gab eine lose Absprache, dass wir für den eigentlich vorgesehenen Wahltermin 2012 eine Studie mit Wahlbefragungen am Wahltag vorbereiten sollten. Nach dem Koalitionsbruch und der Festsetzung des Neuwahltermins für Februar 2011 musste es dann ganz schnell gehen. Die Bürgerschaft hat uns Ende 2010 mit der Durchführung der Studie beauftragt. Und es blieben uns nur wenige Wochen Zeit, die umfangreiche Studie vorzubereiten.
Und was haben Sie gedacht, als Sie mit den vier bunten Zetteln in die Wahlkabine gegangen sind?
Da ich im Hamburger „Speckgürtel“ wohne, durfte ich an der Wahl selbst nicht teilnehmen. Allerdings hatten wir am Wahlsonntag genug damit zu tun, die fast 200 studentischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der UHH zu koordinieren, die an diesem Tag 3.500 Befragungen an über 160 Orten in Hamburg durchgeführt haben. Uns ist allen am Wahlabend ein großer Stein vom Herzen gefallen, dass es keine Pannen gegeben hat. Deshalb an dieser Stelle noch einmal mein ausdrücklicher Dank an mein Team und an alle Beteiligten.
Das Interview führte Anna Lena Bärthel. :: :: :: :: ::