Freiheitseinschränkende Maßnahmen (FEM) wie Bettgitter oder Bauchgurte finden in Alten- und Pflegeheimen in Deutschland häufig Anwendung. Unter dem Motto „Mehr Freiheit wagen“ testeten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Hamburg und Witten/Herdecke in einem Programm, wie FEM vermieden und mehr Bewegungsfreiheit erreicht werden können. Ihre Studienergebnisse haben sie in der Mai-Ausgabe der renommierten Fachzeitschrift „Journal of the American Medical Association (JAMA)“ veröffentlicht.
„Freiheitseinschränkende Maßnahmen – sogenannte Fixierungen – sind ethisch umstritten und gesetzlich als letztes Mittel der Wahl vorgesehen“, erklärt Prof. Dr. med. Ingrid Mühlhauser. Sie ist Gesundheitswissenschaftlerin der Universität Hamburg, die mit ihrer Arbeitsgruppe die Studie unter dem Motto „Mehr Freiheit wagen“ und gemeinsam mit Kollegen der Arbeitsgruppe Klinische Pflegeforschung an der Universität Witten/Herdecke leitete. Sie konnten zeigen, dass die Einführung eines Leitlinien-gestützten Programms in Pflegheimen zur Reduktion von FEM führt.
Ziel: Fixierung reduzieren
In einer früheren Studie aus dem Jahr 2003 hatten die Gesundheitswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler der Universität Hamburg herausgefunden, dass in Hamburger Pflegeheimen sogenannte Fixierungen bei 26% der Heimbewohner angewendet werden. In den häufigsten Fällen handelte es sich um Bettgitter. Zwischen den Heimen gab es dabei große Unterschiede, die nicht durch einfach messbare Merkmale wie Anzahl der Pflegekräfte oder Eigenschaften der Bewohner zu erklären sind.
Erfolgskonzept: Sensibilisieren
Die nun veröffentlichte Studie setzte an diesem Punkt an und sensibilisierte die Pflegekräfte für das Thema. Per Zufallsverfahren wurden 18 Pflegeheime einer Interventionsgruppe und 18 Heime einer Kontrollgruppe zugeteilt. In der Interventionsgruppe schulten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler alle Pflegekräfte nach dem neuen Programm. Außerdem wurden spezielle FEM-Beauftragte benannt und Informationsmaterialien für Bewohner, Angehörige, gesetzliche Betreuerinnen und Betreuer sowie Pflegekräfte bereitgestellt. Gleichzeitig sicherten die Heime in einer Deklaration zu, sich für die Reduktion von FEM einzusetzen. Die Kontrollgruppe hingegen erhielt nur eine kurze schriftliche und mündliche Information über FEM.
Negative Nebenwirkungen: Null
Während des sechsmonatigen Untersuchungszeitraums erfuhren weniger Bewohnerinnen und Bewohner in den Interventionsheimen freiheitseinschränkende Maßnahmen (der Einsatz von FEM sank von 31,5% auf 22,6%). In der Kontrollgruppe blieb die Zahl der FEM nahezu unverändert: 30,6% bei Studienbeginn und 29,1% bei Ende der Studie. In der Interventionsgruppe wurden alle Arten von FEM reduziert.
Im Vergleich mit den Pflegeheimen der Kontrollgruppe zeigte sich, dass es keine negativen Auswirkungen gab. So kam es weder zu einer Zunahme von Stürzen oder sturzbedingten Verletzungen noch zu einer vermehrten Verordnung von Psychopharmaka zur Ruhigstellung von Bewohnerinnen und Bewohnern.
„Mehr Freiheit wagen“
Die Forschergruppe kommt zu dem Ergebnis, dass es unter den aktuellen finanziellen und personellen Bedingungen in den Pflegeheimen möglich ist, FEM mittels des entwickelten Programms wirksam und sicher zu reduzieren. Das erprobte Interventionsprogramm steht zur Verankerung in die Pflege in Deutschland bereit und ist online abrufbar:
www.leitlinie-fem.de.
Das Projekt wurde seit 2007 mit 420.000 EUR im Rahmen des Pflegeforschungsverbundes Nord vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Die Leitung hatten in Hamburg die Gesundheitswissenschaftler Prof. Dr. Ingrid Mühlhauser und Dr. Sascha Köpke, jetzt Professor für Pflegeforschung an der Universität Lübeck, und in Witten die Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. Gabriele Meyer.
PM/Red.