Internationale neuro-psychologische ForschungKönnen blind geborene Menschen Sehen lernen?Serie Forschen und Verstehen
4. Dezember 2024, von Anna Priebe
Foto: Sebastian Engels
Unser Gehirn kann sich lebenslang an veränderte Bedingungen anpassen, manche Prozesse sind jedoch nur in der frühen Entwicklung möglich. Prof. Dr. Brigitte Röder, Professorin für Biologische Psychologie und Neuropsychologie, erforscht in einem deutsch-indischen Kooperationsprojekt, ob blind geborene Menschen nach einer Operation später im Leben noch Sehen lernen und welche neuronalen Prozesse dafür förderlich bzw. hinderlich sind.
Sie erforschen die Entwicklung des menschlichen Gehirns. Worauf liegt hier Ihr Fokus?
Mit unserer Arbeit wollen wir herausfinden, wie Erfahrungen die Entwicklung des menschlichen Gehirns beeinflussen. Als Modell dafür nutzen wir das Sehen und die mit dem Sehen assoziierten neuronalen Systeme.
Sie untersuchen also, wie sich das Gehirn einer blind geborenen Person entwickelt – im Unterschied zu dem einer sehenden?
Uns interessiert momentan besonders, ob das Gehirn einer blind geborenen Person, das sich von früh auf an Blindheit angepasst hat, später im Leben neu für die Verarbeitung von Seheindrücken umorganisieren kann, wenn die Sehkraft durch eine Operation wiederhergestellt wird. Es geht also um das Verstehen von dem, was wir in der psychologischen und neurowissenschaftlichen Forschung als sensible Perioden in der menschlichen Gehirnentwicklung bezeichnen.
Was haben Sie herausgefunden?
Wir konnten nachweisen, dass die Sehinformation nach der Operation mit gleicher Geschwindigkeit die sogenannte primäre Sehrinde, also die erste kortikale Stufe im Sehprozess, erreicht wie bei sehend geborenen Menschen. Das ist auch unabhängig vom Alter beim Eingriff. Die weitere Verarbeitung in den nachgeordneten Hirnarealen dagegen ist bei den operierten Patientinnen und Patienten beeinträchtigt. Das erklärt, wieso diese Menschen zum Beispiel zwar ein Gesicht von anderen Objekten unterscheiden können, aber Schwierigkeiten haben, bestimmte Personen an ihrem Gesicht zu erkennen.
Welche Methoden haben Sie dafür genutzt?
Wir nutzen vor allem die Elektroenzephalographie, kurz EEG. Bei dieser Methode, die in jedem Alter einfach und ohne große Belastung anwendbar ist, tragen die Probandinnen und Probanden eine Kappe, in der Elektroden eingelassen sind, die die Kopfhaut berühren. Die Elektroden sind in der Lage, die sehr geringen elektrischen Ströme des Gehirns aufzufangen. Aus diesen Messungen kann dann ein Signal extrahiert werden, das es erlaubt, einzelne Stufen der visuellen Reizverarbeitung nachzuvollziehen.
Ergänzend machen wir Kernspinaufnahmen. Mithilfe dieser sogenannten Magnetresonanztomographie (MRT) können wir neben der Funktion auch die Struktur des Gehirns untersuchen. Insbesondere interessieren uns hier die verschiedenen visuellen Areale. Paradoxerweise haben wir und andere festgestellt, dass bei blind geborenen Menschen der Sehkortex dicker ist als bei normalsehend geborenen Menschen. Dieser Befund wurde als fehlende Ausformung der visuellen Areale bei blinden Menschen interpretiert, zu der auch der Abbau überschüssiger Verbindungen gehört. Unsere Studien zeigen, dass diese strukturelle Ausformung visueller Areale nicht nachgeholt werden kann, wenn das Augenlicht erst später im Leben erlangt wird.
Was kann man aus den Ergebnissen schließen?
Unsere Studien zeigen, dass die strukturelle Entwicklung des Gehirns ganz entscheidend von adäquaten frühkindlichen Erfahrungen abhängt. Das gilt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für andere Teile des Gehirns, die für Funktionen wie Sprache, Verhaltenskontrolle oder sozio-emotionale Funktionen verantwortlich sind.
Wenn die strukturelle Entwicklung die funktionelle begrenzt, folgt daraus, dass fehlende oder ungünstige Umwelten verhindert oder möglichst früh behoben werden sollten. In zukünftiger Forschung wollen wir herausfinden, welche therapeutischen Maßnahmen die noch vorhandene Plastizität des Gehirns am besten ansprechen. Zum Beispiel könnten spielerisch gestaltete Wahrnehmungstrainings von Nutzen sein.
Eine besondere Herausforderung für Ihre Forschung sind die sehr speziellen Anforderungen an die Probandinnen und Probanden, oder?
Menschen, die eine behandelbare Blindheit haben, die Therapie aber über viele Jahre nicht erhalten haben, sind in den meisten westlichen Ländern dank der sehr guten medizinischen Versorgung kaum mehr anzutreffen.
Wir untersuchen Menschen, deren Blindheit durch eine angeborene Katarakt, also einen Grauen Star, verursacht wurde. Katarakte kennen wir als Eintrübung der Linse des Auges im höheren Lebensalter. Angeborene Katarakte haben oft genetische Ursachen oder entstehen während der Schwangerschaft. In westlichen Ländern werden sie in der Regel in Routineuntersuchungen kurz nach der Geburt erkannt und innerhalb der ersten Lebensmonate operiert.
Sie arbeiten daher seit mehr als zehn Jahren mit dem L. V. Prasad Eye Institute in Indien zusammen. Was macht diese Forschungskooperation aus?
Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist in Indien besonders in ländlichen Regionen oft keine Selbstverständlichkeit. Das L. V. Prasad Eye Institute hat in vier südindischen Bundesstaaten ein Netzwerk für die augenärztliche Versorgung aufgebaut. Unter anderem durch Spendengelder kann das Institut 50 Prozent der Behandlungen kostenlos anbieten, sodass sie jedem Kind oder Erwachsenen unabhängig von der finanziellen Situation ermöglicht werden. Zusätzlich gehört das L. V. Prasad Eye Institute zu einer der weltweit führenden Forschungsinstitute im Bereich der Augenmedizin.
Von der dafür installierten Forschungsinfrastruktur haben wir profitiert: Wir konnten am L. V. Prasad Eye Institute in Hyderabad ein Labor aufbauen, das vergleichbare Untersuchungsmethoden bietet wie unsere Labore in Hamburg, unter anderem die Messung des EEGs. Die Kooperation mit dem L. V. Prasad Eye Institute ist für uns eine einzigartige Möglichkeit, ohne die unsere Forschung kaum möglich wäre.
Wie gewinnen Sie die Probandinnen und Probanden?
Die indischen Kolleginnen und Kollegen übernehmen die Ansprache und erklären den infrage kommenden Patientinnen und Patienten bzw. deren Eltern die Studie. Erst nach Einwilligung erfolgt eine Einladung in unser Labor bzw. für unser Forschungsprojekt. Dabei wird von Anfang an klar kommuniziert, dass die Studienteilnahme komplett freiwillig und unabhängig von der Behandlung am L. V. Prasad Eye Institute ist.
Forschen und Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen und Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekt genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.