Forschung zu GenealogieDie Macht der Abstammung im frühneuzeitlichen Asien, Europa und dem Nahen OstenSerie Forschen und Verstehen
14. November 2023, von Viola Griehl
Foto: Markus Friedrich
Soziale, politische oder religiöse Privilegien werden oft aus imaginären oder realen Verwandtschaftslinien abgeleitet. Welche Rolle die Abstammung in unterschiedlichen Kulturen und Epochen spielte, untersuchen jetzt Forschende im Rahmen eines Projekts zu „World Genealogy“. Die vier Projekte, von denen drei an der Universität Hamburg angesiedelt sind, werden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit insgesamt 1,25 Millionen Euro gefördert.
Prof. Markus Friedrich, Sie befassen sich mit dem wichtigsten Nachschlagwerk über den europäischen Adel, dem „Gotha“. Was genau interessiert Sie bei Ihrer Forschungsarbeit?
Der Gotha ist ein jährlich erscheinendes Verzeichnis des deutschen Adels, das auch wichtige Adelsfamilien Europas und der Welt aufnimmt. Trotz mehrfacher Unterbrechungen durch politische Umbrüche im 20. Jahrhundert besteht es mit einigen Veränderungen auch heute noch.
Der Verlag Justus Perthes in Gotha verdiente jahrzehntelang an diesem Nachschlagewerk, weil es sich gut verkaufte. Auch Historikerinnen und Historiker haben den Gotha immer wieder als verlässliches Nachschlagewerk benutzt, jedoch bisher kaum einmal untersucht, wie der Gotha eigentlich entstand: Wie wurde jedes Jahr ein aktualisiertes Handbuch hergestellt und wie hat sich das Adelshandbuch im Lauf der Zeit gewandelt?
Zudem ist es aufschlussreich zu schauen, wie einzelne Adelshäuser auf das Handbuch reagiert haben – manche waren sehr zufrieden, wie sie darin präsentiert wurden, andere gar nicht und haben oft über Jahre hinweg versucht, eine aus ihrer Sicht bessere Darstellung zu erreichen. All das zeigt, wie enorm wichtig Genealogie – genauer gesagt: die richtige Darstellung der eigenen Genealogie – für den Adel, aber auch für die Öffentlichkeit war.
Prof. Barend ter Haar, bei Ihrem Projekt geht es um Genealogie im spätkaiserlichen
China. Worauf liegt dabei der Schwerpunkt Ihrer Untersuchungen?
Unser Projekt konzentriert sich auf die Region Huizhou und untersucht, wie dort mithilfe von Genealogien große Familienverbände geschaffen wurden. Huizhou ist seit dem 11. Jahrhundert als Zentrum neokonfuzianistischer Studien bekannt und unter anderem berühmt für seine Kaufleute – insbesondere während der Ming- (1368–1644) und Qing-Dynastien (1645–1911).
Der Wohlstand der Kaufleute von Huizhou beruhte auf geschickt konstruierten Familienverbänden. Sie bildeten mächtige soziale Gemeinschaften, deren Mitglieder durch Hinweis auf (angebliche) gemeinsame Abstammung und Verwandtschaft zusammengehalten werden sollten. Die Verbände wurden sowohl durch Genealogie als auch durch konfuzianische Ritualpraxis geschaffen bzw. durch eine enge Verknüpfung der beiden Vorgehen. Das vermittelte Wissen über Abstammung und das gemeinsame rituelle Erinnern an die Ahnen schufen eine gemeinsame Identität für die Beteiligten. Die so entstandenen sozialen Gruppen oder Familienverbände dienten einem doppelten Zweck: Sie erleichterten zum einen den Wettbewerb mit anderen, ähnlich konstruierten Abstammungsgruppen sowie Dorfgemeinschaften und zum anderen die Verhandlungen mit dem Staat über Fragen lokaler Autorität, Steuerprivilegien und des sozialen Status in verschiedenen historischen Epochen. In diesen Vorgängen wird die tiefgreifende Bedeutung der Genealogie als Form des kulturellen Kapitals erkennbar, da sie lokale Gruppen in ihren Interaktionen mit dem Staat und seinen lokalen Vertretungen stärkte.
Prof. Steffen Döll, bei Ihnen geht es um die Zusammenhänge von genealogischen Aufzeichnungen des Zen-Buddhismus und religiöser Autorität im frühneuzeitlichen Japan. Was untersuchen Sie konkret?
Im Zen-Buddhismus spielt die Frage nach der Abstammung eine ganz zentrale Rolle. Dabei ist Genealogie allerdings in einem speziellen Sinne gedacht, denn es geht nicht um biologische, sondern um spirituelle Abstammung.
Die grundlegende Idee ist, dass der Buddha neben all den Lehren, die sich schriftlich niedergelegt finden, auch und vor allem etwas überliefert hat, das sich jeglicher Art von sprachlicher Formulierung entzieht. Diese ‚Überlieferung von Herz zu Herz‘ soll sich vom Buddha auf seinen Schüler Mahākaśyapa vollzogen haben, der damit sein Nachfolger wurde. In zweiter Generation erhielt Ānanda die Überlieferung und nach ihm die folgenden Generationen. Vertreterinnen und Vertreter des Zen-Buddhismus gehen also grundsätzlich davon aus, Teil einer Überlieferungslinie zu sein, die sich ungebrochen über 2.500 Jahre zurückverfolgen lässt. Diese Überzeugung findet Niederschlag in genealogischen Diagrammen, die sogar heute noch geschrieben und weitergeführt oder abgeändert werden und historisch in vielen Varianten überliefert sind.
Unser Projekt setzt sich das Ziel, diese genealogischen Diagramme – vom Mittelalter bis in die Moderne – in ihrer Entwicklung und Autorenschaft, Zirkulation und Überlieferung sowie ihren jeweiligen Bezugnahmen auf andere Diagramme nachzuverfolgen. Es geht uns quasi um eine Genealogie von Genealogien, denn damit lassen sich Rückschlüsse ziehen auf Legitimationsstrategien von Lehrmeistern und Schülern, auf Machtansprüche Zen-buddhistischer Institutionen und auf die externe Rezeption der in den Diagrammen enthaltenen Wissensbestände.
Informationen zum Projekt
„World Genealogy. Darstellung, Dokumentation und Instrumentalisierung von Abstammungslinien in Asien, Europa und im Nahen Osten in der Frühen Neuzeit“ wurde als sogenanntes Antragspaket bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingereicht. Es umfasst neben den drei UHH-Projekten von Prof. Dr. Markus Friedrich, Prof. Dr. Barend ter Haar und Prof. Dr. Steffen Döll auch das Vorhaben „Dynastische Stammbäume in der Frühen Neuzeit: Visualisierung von Geschichtsvorstellungen und politischer Legitimität in der islamischen Welt“ von Dr. Evrim Binbaş von der Abteilung für Islamwissenschaft und Nahostsprachen der Universität Bonn. Alle vier Projekte sind zwar jeweils in sich abgeschlossen, doch werden PIs und Mitarbeitende in häufigen Arbeitssitzungen eng miteinander zusammenarbeiten und ihre Ergebnisse und Fragen aufeinander beziehen. Zudem kooperieren die Forschenden mit dem Forschungsschwerpunkt „Early Modern World“ und dem Exzellenzcluster „Understanding Written Artefacts“ der Universität Hamburg. Den Auftakt bildete am 12. Oktober ein in Zusammenarbeit mit dem GIGA veranstalteter Vortrag von Dr. Nadav Samin (Washington, DC) zum Thema „Genealogy from Islamic History to Modern Saudi Arabia“.