Weltweit erste Mikrostudie zur Gewitter-Verbreitung„Gewitter können sich vermehren“
16. September 2020, von Hendrik Tieke und Christina Krätzig
Foto: imago images / xim.gs
Gewitter erschaffen Kältezonen, die neue Gewitter erzeugen können. Computersimulationen zeigen diesen Effekt, aber wie sieht er in der Natur aus? Forschende der Universität Hamburg und des Max-Planck-Instituts für Meteorologie sind dem echten Phänomen auf der Spur: mit 100 Messstationen in ganz Hamburg. Prof. Dr. Felix Ament leitet die Kampagne.
Herr Ament, wie entstehen Gewitter?
Dafür braucht es drei Zutaten: Warme und feuchte Luft über dem Erdboden, passende Temperaturverhältnisse in der Höhe und einen Auslöser.
Die erste Zutat, warme und feuchte Luft über dem Erdboden, entsteht vor allem im Sommer, wenn die Sonne den Boden aufheizt. Dabei verdunstet viel Wasser. Die warme Sommerluft nimmt dieses Wasser auf und es kommt zum typischen schwülen Wetter.
Durch die Temperaturabnahme in der Höhe – die zweite Zutat– entsteht eine Barriere. In einer Gewitterlage ist diese Barriere nicht so ausgeprägt wie sonst, deswegen kann feuchtwarme Luft sie durchdringen.
Die dritte Zutat, der Auslöser, ist meistens ein zufälliger Windstoß sein. Er hebt ein feuchtwarmes Luftpaket durch die Barriere nach oben. Dort angekommen, kondensiert die Luftfeuchte, das heißt, der Wasserdampf kühlt ab und Tropfen entstehen. Es bildet sich eine Wolke, die durch die Freisetzung der Verdunstungswärme zu einer hochreichenden, dunklen Gewitterwolke heranwachsen kann.
Spannend an diesen Wolken ist: Durch den herabfallenden Regen können sie die nächste Generation an Gewittern auslösen. Gewitter können sich also vermehren!
Wie geschieht das genau?
Durch sogenannte Coldpools, was man mit „Kaltluftseen“ übersetzen könnte. Coldpools bilden sich, weil Regen beim Fallen verdunstet und dabei die umgebende Luft abkühlt. Kalte Luft ist schwer und strömt nach unten. Am Boden bildet sich deswegen unter dem Regengebiet ein „See“ an kalter Luft, der in alle Richtung nach außen fließt - wie Wasser, das man auf eine Platte gießt.
Trifft diese schwere, kalte Luft des Coldpools auf die feuchtwarme Luft am Boden, schiebt sie sich darunter und hebt die Bodenluft an. Damit geht das Ganze von vorn los: Feuchte und warme Luft steigt auf und ein neues Gewitter entsteht.
Wie werden Sie die Coldpools vermessen?
Wir nutzen selbstentwickelte Messgeräte an einer drei Meter hohen Stange, die einmal in jeder Sekunde die Lufttemperatur und den Luftdruck messen. Herkömmliche Wetterstationen zeichnen diese Messwerte nur alle zehn Minuten auf – viel zu selten für schnelle Coldpools, die sich mit 50 Kilometern pro Stunde ausbreiten. Normalerweise stehen die Messgeräte auch viel zu weit auseinander. Nur mit unserem engmaschigen Netz von 100 Messstationen schlüpft uns kein Coldpool durch die Maschen. Das ist neu!
Warum ist die Untersuchung der Coldpools wichtig?
Coldpools studiert man schon länger in hochaufgelösten Rechnersimulation. In diesen Computeranimationen sind sie wunderschön anzusehen und haben spannende Auswirkungen, die wir recht gut verstehen. Aber passt das auch zur Realität?
Sehen die realen Coldpools aus wie im Rechner? Das untersuchen wir jetzt
Sehen die realen Coldpools genauso aus wie die Coldpools aus dem Rechner? Das untersuchen wir jetzt, mit so vielen Messstationen wie noch nie ein Forschungsteam zuvor.
Mit Hilfe unserer Messdaten können wir die Wetter- und Klimamodelle verbessern. Sie können also dazu beitragen, die kurzfristige Vorhersage von Gewittern genauer zu machen: ob, wann und wo sie auftreten werden. Und sie helfen, Fragen zu mittel- oder langfristigen Klimaveränderungen zu beantworten; im Besonderen zu extremen Wetterphänomenen wie Platzregen und Gewittern. Coldpools sind nur kleine Zahnräder im großen Klimasystem, aber sie steuern wichtige Aspekte unseres Wetters und Klimas.
Eigentlich sollte die Forschung in Brandenburg stattfinden, ist das richtig?
Ja. Wir wollten unser Netz von Messstationen südöstlich von Berlin aufbauen, als Teil einer groß angelegten Messkampagne am Observatorium des Deutschen Wetterdienstes. Die Corona-Pandemie hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wir mussten schnell reagieren und haben die Kampagne kurzerhand ins Homeoffice verlegt: In den letzten Wochen wurden die Messgeräte in Hamburg und Umgebung aufgebaut – in privaten Gärten oder auf dem Gelände von städtischen Behörden.
Prof. Dr. Felix Ament ist Professor am Meteorologischen Institut der Universität Hamburg und arbeitet am Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN) an der Weiterentwicklung von Wetter- und Klimamodellen. Er leitet die Messkampagne FESST@HH, welche vom Hans-Ertel-Zentrum für Wetterforschung (HErZ) initiiert wurde und an der auch Forschende des Max-Planck-Instituts für Meteorologie beteiligt sind. Der Deutsche Wetterdienst fördert das Projekt mit rund einer Million Euro.