Historiker-Team baut antike Losmaschine nach
25. Juli 2017, von Ellen Schonter
Fast schon fanatisch waren die Athener des 4. Jahrhunderts v. Chr., wenn es um das Losen ging – für sie war es der Versuch, die Demokratie zur Perfektion zu treiben. Für das Losverfahren benutzten sie ein ausgefeiltes Gerät: das Kleroterion. Historikerin Prof. Dr. Kaja Harter-Uibopuu und ihr Team haben die antike Losmaschine nachgebaut.
Mit lautem Klackern rollen 10 Kugeln durch eine Metallröhre. Als das Geräusch verstummt, dreht Franziska Weise an einem Hebel am Ende der Röhre. Eine einzelne weiße Murmel fällt in ihre Hand. Weise zieht ein beschriftetes Holztäfelchen aus dem Schlitz eines Kastens. „Thomas, Sohn des Wolfgang“, schallt ihre Stimme durch den Saal. Thomas bahnt sich seinen Weg durch die Reihen des Hörsaals im Philosophenturm nach vorne. Er wurde soeben zum Richter für das athenische Gericht ernannt – von einer Losmaschine. „Ein interessantes Spiel“, raunt er schmunzelnd.
Das Los als Wesen der Demokratie
Eine bloße Spielerei war das Losen im antiken Stadtstaat Athen jedoch nicht: „Es war das Wesen der athenischen Demokratie“, sagt Prof. Dr. Kaja Harter-Uibopuu. Die Historikerin forscht an der Universität Hamburg zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der griechischen Stadtstaaten der Antike. Mit ihrem Team, darunter Franziska Weise, hat sie eine antike Losmaschine nachgebaut – und setzt sie nun in ihrer Vorlesung ein.
„Ob Richter, Amtsträger oder auch die Reihenfolge bei Theaterwettbewerben – im 4. Jahrhundert v. Chr. war das Losen in Athen fast schon fanatische Praxis“, erzählt Harter-Uibopuu. Dafür gibt es zwei Gründe: „Zum einen bestand die Ur-Angst vor geheimen Verabredungen und Korruption. Diese wollte man mit der Auslosung von Amtsträgern verhindern“, erklärt die Historikerin.
Zum anderen sollte das Losverfahren die Stimme des Volkes abbilden. Denn vom Bauern bis zum Städter war es fast jedem Mann mit Bürgerrechten erlaubt, Richter zu werden – und das Los ermittelt einen Querschnitt der Bevölkerung, unabhängig von Bildung und Fachwissen. „Die zufällige Verteilung dieses Amtes war eine wesentliche Säule der Demokratie: Ich richte über meinen Nachbarn und er über mich“, erklärt Franziska Weise.
Antike Demokratie im Selbstversuch
Das Losen war also ein Versuch der Athener, die Demokratie bis zur Perfektion zu treiben – und so wurde auch das Lossystem immer ausgefeilter. Das zeigt das Kleroterion, das in einem komplizierten Prozedere zur Auslosung von Richtern verwendet wurde (s. Infobox).
Wann und wie genau die Losmaschine erfunden wurde, lässt sich heute nicht mehr eindeutig belegen – dafür ist umso besser bekannt, wie sie benutzt wurde: „Die Schrift ‚Der Staat der Athener‘ aus dem Umfeld des Aristoteles enthält eine komplizierte Anleitung“, erzählt Kaja Harter-Uibopuu. „Das gab uns den Impuls, das Gerät nachzubauen und mit Gebrauchsanweisung zu testen.“
„Wenn man die Anleitung in der Praxis umsetzt, schließen sich Wissenslücken bei der Anwendung der Kleroterien“, erklärt die Professorin. „So tragen wir zu einem besseren Verständnis der damaligen Demokratie bei.“ Neben der Forschung bereichert das Gerät auch Schulklassen und die Lehre: „Wir lassen Studierende den Prozess mit Anleitung selbst rekonstruieren“, erzählt Franziska Weise. „So bekommen sie ein Gefühl dafür, was das Losen bedeutete – zum Beispiel einen großen Zeitaufwand.“
Denn spektakulär ist die Masse an Richtern, die damals fast jeden Morgen generiert werden musste: „Das Minimum für Prozesse vor Geschworenen waren 201 Richter, Standardprozesse verlangten 501 Richter und große Prozesse sogar 2001 Richter“, erzählt Harter-Uibopuu. Mithilfe des Kleroterions dürfte eine professionelle Losung von rund 2000 Richtern etwa eine Stunde gedauert haben. Zum Vergleich: In der Vorlesung brauchten Harter-Uibopuu und ihr Team rund 40 Minuten für 24 Geschworene. Früher hätten die Richter für ihr Amt drei Obolen (kleine Münze) als Sold bekommen – in der Vorlesung gab es Schokomünzen.
So losten die Athener der Antike ihre Richter
An jedem Morgen eines Prozesstags versammelten sich mindestens 2001 Richterkandidaten beim Gerichtsgebäude – auf freiwilliger Basis. Jeder von ihnen war ausgestattet mit einem Richtertäfelchen, beschriftet mit seinem Namen, Vatersnamen, seiner Phyle (eine Art Verwaltungseinheit des Staates) und einem Buchstaben. Jeder Kandidat warf sein Täfelchen in eine von zehn Kisten, die geschüttelt wurden.
Danach kam das Kleroterion zum Einsatz: Ein steinerner Block mit Reihen von Schlitzen in fünf Spalten, insgesamt kamen gleichzeitig 20 Kleroterien am Eingang zum Gericht zum Einsatz. An der Seite des Blocks befand sich eine eingelassene Röhre mit einem Trichter am oberen Ende. Nun steckten fünf Personen die Täfelchen aus den jeweiligen Kisten vertikal und in zufälliger Reihenfolge in die Spalten der Losmaschine. War das Gerät mit allen Täfelchen bestückt, wurde eine entsprechende Menge schwarzer und weißer Kugeln in den Trichter geworfen. Nun wurde nacheinander für jede horizontale Reihe ausgelost, ob die Kandidaten das Richteramt antreten durften. Dafür wurde Kugel für Kugel am Ende der Röhre einzeln entnommen: Eine weiße Kugel stand für ja, eine schwarze Kugel stand für nein.
War eine horizontale Reihe auf diese Weise zum Richteramt bestimmt worden, wurden die Richter einzeln ausgerufen. Nun sollte das Los noch bestimmen, in welchen Saal sie eingeteilt wurden: Gegen Vorlage ihrer Tafel zogen sie eine Eichel, auf der mit griechischen Buchstaben einer von vier Gerichtssälen markiert war. Um zu verhindern, dass Richter die kleinen Eicheln unbemerkt tauschten, musste sich jeder Richter gegen Vorlage seiner Eichel noch den dazugehörigen farbigen und gut sichtbaren Stab holen. Damit begaben sich die Richter zu ihrem Saal, wo ein weiterer Beamter noch die Sitzplätze ausloste.