Internationale KooperationSeebären & Co. verstehen: Forschende berechnen weltweites Risiko für TsunamisSerie Forschen und Verstehen
7. November 2024, von Anna Priebe
Foto: UHH/Behrens
Tsunamis kommen nicht nur in entfernten Ozeanen vor, sondern auch in der Nord- und Ostsee. Wie man diese Ereignisse und ihre Folgen berechnen kann, erforscht Prof. Dr. Jörn Behrens, Professor für Numerische Methoden in den Geowissenschaften am Fachbereich Mathematik und im Exzellenzcluster CLICCS. Gemeinsam mit internationalen Kolleginnen und Kollegen will er eine weltweit gültige Risikokarte für Tsunamis entwickeln.
Wie arbeiten Sie als Mathematiker zu den Tsunamis?
Ich simuliere aus vorhandenen gemessenen Daten mit mathematischen Formeln und Modellen, wie sich eine Welle voraussichtlich entwickeln und verhalten wird – entweder im Rahmen eines Frühwarnsystems oder einer vorsorgenden Risikobewertung.
Einer Ihrer Schwerpunkte sind die sogenannten Seebären. Was verbirgt sich hinter diesem Phänomen?
Seebär ist ein traditioneller und früher auch wissenschaftlich verwendeter Begriff, der sich von dem Wort Bore für ‚Welle‘ ableitet. Seebären kommen mehrmals im Jahr in der Nord- und Ostsee vor. Sie werden meistens kaum wahrgenommen, weil sie nur kleine Wellen verursachen, aber es sind Tsunami-ähnliche Ereignisse. Sie werden allerdings nicht durch Erdbeben ausgelöst, sondern durch bestimmte meteorologische Gegebenheiten, etwa durch Wetterfronten, also kleinräumige Druckänderungen in der Atmosphäre, die auf den Ozean wirken. Deshalb bezeichnen wir sie als Meteo-Tsunamis.
Sie setzen diese Berechnungen auch für Tsunamis in anderen Regionen der Welt ein. Wie arbeiten Forschende verschiedener Länder zu diesem Thema zusammen?
Aus einem von der europäischen COST-Association geförderten Vernetzungsprojekt haben wir die Global Tsunami Model Association gegründet. Das Projekt war sehr erfolgreich und wir konnten viele Forschungslücken im Bereich der Tsunami-Forschung identifizieren. Allerdings lag der Fokus auf Europa – und wir möchten alle potenziell betroffenen Regionen abbilden, etwa den asiatischen Raum oder die amerikanische Westküste.
In dem neuen Zusammenschluss wollen wir das Phänomen Tsunami insgesamt besser verstehen und vorhersagen. Bisher ist das nur für Tsunamis, die durch Erdbeben ausgelöst werden, einigermaßen sicher möglich. Wir wollen nun für Meteo-Tsunamis sowie für Wellen, die durch Vulkanausbrüche oder Erdrutsche am Meeresboden ausgelöst werden, nachziehen.
Denn die Ursachen sind unterschiedlich, aber die Folgen vergleichbar?
Genau, durch die verschiedenen Anregungsmechanismen bildet sich im Ozean eine sogenannte Schwerewelle. Sie ist sehr schnell, verliert fast keine Energie und kann sich dadurch beliebig ausbreiten. Man kann sich das vorstellen wie eine Schallwelle, die keine Luft bewegt, sondern immer nur einen Impuls weitergibt. So verhält sich die Welle im Ozean auch – und im tiefen Gewässer nimmt man sie quasi nicht wahr. Gefährlich wird sie erst, wenn es flach wird, sie sich auftürmt und die enthaltene Energie in Wasserbewegung umgewandelt wird.
Dort, wo sie auf Land trifft, kommt es – je nach Stärke – zu Überschwemmungen und Verwüstungen. Daher arbeiten wir nicht nur naturwissenschaftlich zu den Ursachen der Wellen, sondern interdisziplinär mit Geographen, Ingenieurinnen und Sozialwissenschaftlern, um herauszufinden, welche Folgen an bestimmten Orten zu befürchten sind und welche Maßnahmen sinnvoll sind.
Was ist das Ziel?
Wir wollen die Wirkungskette vom Auslöser bis zum Eintreffen der Welle so genau simulieren, dass wir für alle Küstengebiete weltweit Risikokarten erstellen können. Sie zeigen, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Tsunami-Ereignis auftritt und welche Stärke zu befürchten ist.
Zum Beispiel ist an der Nordsee das Risiko für einen von einem Erdbeben ausgelösten Tsunami sehr gering. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass durch Seebären eine Welle von zehn Metern Höhe entsteht, ist minimal. In Kombination mit den vorhandenen Küstenschutzmaßnahmen ist daher kaum ein Schaden zu befürchten. An der Ostsee, wo es keine hohen Deiche gibt, kann das eine ganz andere Sache sein. Das gilt auch in der Adria, wo es regelmäßig Meteo-Tsunamis und durch Erdbeben ausgelöste Wellen gibt, aber kaum entsprechenden Küstenschutz. Dort ist das Risiko für Schäden direkt größer – zumal die Küste eng besiedelt ist. Diese Faktoren fließen alle in unseren Karten ein.
Bislang sind oft nur kleinräumige Gefahrenkarten für Tsunamis verfügbar
Das heißt, Sie brauchen möglichst viele Daten?
Ja, allerdings ist es manchmal gar nicht so einfach, an diese heranzukommen. Man braucht für die Berechnungen zum Beispiel sehr genaue topographische Karten, um berechnen zu können, wie sich die Welle in Küstennähe oder an Land verhält. In vielen Fällen sind daher bislang nur kleinräumige Gefahrenkarten für Tsunamis verfügbar.
Unser Projekt zielt nun darauf ab, zunächst nachvollziehbare Vorschriften für die Berechnung zu entwickeln. Mit diesen könnten auch mit einer ungenauen Datenlage brauchbare Ergebnisse erzielt werden. Auf dieser Basis wollen wir dann eine detaillierte globale Risikoanalyse durchführen.
Auch im Ernstfall ist es hilfreich, auf bereits gerechnete Szenarien zurückgreifen zu können. Ich war nach dem Tsunami 2004 in Indonesien, um dort das deutsch-indonesische Tsunami-Frühwarnsystem unter Federführung des Geoforschungszentrums in Potsdam mit aufzubauen. Dort gibt es jetzt eine Datenbank, die Berechnungen für verschiedene Regionen, Ursachen und weitere Parameter enthält. Kommt es zu einem Vorfall, schaut man, welches Szenario aus der Datenbank am besten mit den an verschiedenen Punkten gemessenen Daten übereinstimmt – und nimmt dieses als Basis für die Warnung, die an die Kommunen weitergegeben wird.
Wie wird diese konkrete Anwendung in der Praxis in der neuen Kooperation mitgedacht?
Wir verfolgen einen Ansatz des Co-Designs. Das heißt, wir entwickeln nicht nur unsere Methoden und Modelle weiter, sondern arbeiten eng mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammen, etwa mit Versicherungsunternehmen, lokalen Gemeinden oder internationalen Organisationen wie der UNESCO. Wie kann man ein berechnetes Risiko für Tsunamis überhaupt verständlich vermitteln? Und wie kann man daraus Maßnahmen ableiten und begleiten? Auch das sind Fragen unserer Forschung.
Forschen und Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen und Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekt genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.