Planungssicherheit durch stochastische OptimierungNeues Modell unterstützt Energiewende in der SchwerindustrieSerie Forschen und Verstehen
29. August 2024, von Anna Priebe
Foto: Pexels/Tom Fisk
Mehr grüne Energie, weniger Emissionen: Um im Kampf gegen den Klimawandel eine Chance zu haben, muss die Schwerindustrie ihre Produktion umstellen. Das ist mit hohen Investitionen und Risken verbunden. Dr. Tobias Cors von der Fakultät für Betriebswirtschaft hat gemeinsam mit Prof. Dr. Malte Fliedner ein mathematisches Optimierungsmodell entwickelt, um komplexe Anlagensystemen wirtschaftlich zu planen und erklärt im Interview, wie dadurch die Energiewende unterstützt werden kann.
Was macht die Energiewende in der Schwerindustrie so herausfordernd?
Zur Schwerindustrie zählen Branchen wie Chemie, Aluminium, Stahl und Zement. Diese Branchen sind nicht nur extrem energieintensiv, sondern gehören auch zu den größten Verursachern von CO₂-Emissionen. Um klimaneutral zu werden, müssen ihre Anlagensysteme grundlegend transformiert werden, also auf Wasserstoff als Energiequelle umgestellt oder so umgerüstet werden, dass ausgestoßener Kohlenstoff abgeschieden und weiterverwendet wird. Allerdings treffen hier erhebliche finanzielle Investitionen auf hohe Planungsunsicherheit: Bereits geringe Abweichungen von der optimalen Anlagenkonfiguration, -dimensionierung oder Betriebsstrategie können zu erheblichen finanziellen Einbußen führen.
Und hier kommt Ihr Projekt ins Spiel?
In meinem Forschungsprojekt entwickle ich ein neues stochastisches Modell, dass es Unternehmen erlaubt, ihre Wertschöpfungsketten im Bereich des grünen Wasserstoffs und des Kohlenstoffs bestmöglich zu gestalten und zu betreiben. Stochastik ist die mathematische Lehre von Zufallsprozessen und Wahrscheinlichkeiten und hilft, die technische und ökonomische Planung von Industrieanlagen mithilfe von Mathematik unter Berücksichtigung von Unsicherheiten zu optimieren.
Das ist besonders für große industrielle Dekarbonisierungsprojekte relevant, bei denen die Investitionen hoch sind und die Planung komplex ist. Die Optimierung soll die Energiewende und die Transformation der Industrie nicht nur technisch, sondern auch wirtschaftlich realisierbar machen.
Welche Methoden setzen Sie in Ihrer Forschung ein?
Ich habe ein flexibles stochastisches Modellierungs- und Optimierungsframework für Multi-Medium-Multi-Energie-Systeme entwickelt, das auf einer Netzwerkflussmodellierung basiert. Konkret bedeutet das, dass Unternehmen mit meinem Programm die Energie- und Massenflüsse sowie die technischen Prozesse innerhalb ihres Systems präzise abbilden können.
Der entscheidende Fortschritt liegt in neuen Methoden zur linearen Abbildung verschiedener technischer Zusammenhänge – in Kombination mit einer zweistufigen stochastischen Optimierung. So erreicht das Modell in einer akzeptablen Rechenzeit eine hohe technische und ökonomische Abbildungsgüte der Systeme.
Gleichzeitig werden Unsicherheiten bezüglich der zukünftigen Nachfragemenge, sich ändernder Marktpreise oder der schwankenden Stromproduktion aus erneuerbaren Energien umfangreich berücksichtigt. Dadurch können Wahrscheinlichkeitsverteilungen für alle relevanten Kennzahlen und Kosten generiert werden. Mit Sensitivitätsanalysen ermöglichen wir es, ein ökonomisch tragbares Risiko zu identifizieren. Darüber hinaus kann die Anwendung Entscheidungsträgerinnen und -trägern helfen, Systeme und Geschäftsmodelle ganzheitlich zu bewerten.
Haben Sie ein konkretes Beispiel für die Anwendung?
In einer Forschungskooperation haben wir mit dem „Westküste100“-Projekt – ein Leuchtturmprojekt des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz – zusammengearbeitet. Hier haben wir unser Modell in der Praxis genutzt, um die Kapazitäten sowie Betriebsstrategien für ein System zu planen, das aus einem Offshore-Windpark, einem Photovoltaik-Park, Systemen zur Elektrolyse und Methanolsynthese, einer Kohlenstoffdioxidabscheidung in einem Zementwerk sowie in einer Raffinerie und Speichern für Wasserstoff, Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid besteht.
Im Kern soll mit grünem Strom grüner Wasserstoff erzeugt werden, der wiederum mit industriell abgeschiedenen Kohlenstoffdioxid zu Methanol synthetisiert wird, das direkt als Treibstoff in der Schifffahrt genutzt oder weiterverarbeitet werden kann. Die zentrale Frage war, wie groß alle Systemkomponenten sein müssen und wie sie zusammenarbeiten sollten, damit das Gesamtsystem robust und kostenoptimal betrieben werden kann. Dabei spielt die Stochastik der erneuerbaren Stromproduktion eine entscheidende Rolle, da das gesamte System ihr ausgesetzt ist. Das Ergebnis zeigte ein erhebliches Einsparpotenzial bei gleichzeitig optimiertem Risikomanagement, darunter 24,3 Prozent Reduktion bei den Durchschnittskosten für Methanol über die Lebenszeit des Anlagenverbunds.
Das klingt so, als wäre das Programm bereits einsetzbar. Was sind die nächsten Schritte?
Die Ergebnisse meiner Forschung werden zunächst in wissenschaftlichen Artikeln veröffentlicht und sollen auch in weiteren Projekten und Gebieten, etwa der integrierten Energie- und Produktionsplanung energieintensiver Industrie, zur Anwendung kommen. Unternehmen, die Interesse an einer Zusammenarbeit oder an der Anwendung dieser Methoden haben, können sich gerne an mich wenden.
Forschen und Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen und Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekt genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.