Europaweites ForschungsnetzwerkWie sieht ein gerechtes Wohnungssystem aus?Serie Forschen und Verstehen
15. August 2024, von Viola Griehl
Foto: Just Housing in Europe/genAI
Immer weniger Menschen finden eine bezahlbare Wohnung. Die Politik will, dass neue Wohnungen entstehen, die Baubranche beklagt Überregulierung und explodierende Kosten. Ein interdisziplinäres Netzwerk aus Forschenden will jetzt Vorschläge für ein gerechtes Wohnungssystem erarbeiten. Initiiert wurde es von Dr. Dr. Marco Meyer vom Philosophischen Seminar.
Was sagt das aktuelle Wohnungssystem über Ungleichheit und Armut in der Gesellschaft aus?
Grundsätzlich gilt: Wer mehr zahlen kann, wohnt besser. Gleichzeitig ist der Wohnungsmarkt in Deutschland einer der am stärksten regulierten und politisch gesteuerten Märkte überhaupt. Mietpreisbremse, sozialer Wohnungsbau und Mietschutzgesetze oder Förderprogramme für Eigenheimbesitzer sollen die Qualität und Erschwinglichkeit von Wohnraum für bestimmte, weniger zahlungskräftige Gruppen verbessern.
Eine große Zahl an Vorschriften kann aber auch nach hinten losgehen, zum Beispiel, wenn es den Wohnungsbau bremst. Zu wenige verfügbare Wohnungen führen dann zu Wohnungsnot und Obdachlosigkeit. Es ist wie bei dem Spiel „Reise nach Jerusalem“ – wobei die Stühle Wohnungen repräsentieren. Wer am erfolgreichsten ist, ist eine Frage von Geschwindigkeit und Glück. Aber wie viele am Ende gar keinen Platz finden, hängt nur davon ab, wieviel mehr Spieler als Stühle es gibt.
Und dann gibt es ja auch noch Stühle, die zwar da sind, aber nicht genutzt werden – also leerstehende Wohnungen trotz großer Nachfrage.
So ist es. Städte versuchen, Leerstand durch Verbote in den Griff zu bekommen, aber diese Verbote sind schwer umzusetzen. Ein noch größeres Problem sind brachliegende Flächen und Flächen mit sehr dünner Bebauung. Hier könnten entsprechende Steuern helfen, den Druck zur Nutzung zu erhöhen. Insgesamt ist ein besseres Verständnis der Zusammenhänge nötig, um den Wohnungsmarkt zu gestalten. Dafür braucht es eine interdisziplinäre Perspektive.
Hier setzt Ihr Projekt an?
Ja, bei unserem Projekt geht es darum, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit gerechtem Wohnen aus verschiedenen disziplinären Perspektiven beschäftigen, zusammenzubringen. Es ist erstaunlich, wie wenig Austausch es zwischen den Disziplinen zu diesem und anderen Themen gibt. Meine Hoffnung ist, dass auf diese Art neue Ideen entstehen können, um gerechtes Wohnen möglich zu machen.
Inwieweit können interdisziplinäre Fragestellungen bei der Reduzierung von Obdachlosigkeit helfen?
Obdachlosigkeit ist ein komplexes Problem, das keine Disziplin allein vollständig erfassen kann. Ein philosophischer Zugriff stellt grundsätzliche Fragen: Was ist eigentlich Obdachlosigkeit? Sind obdachlos nur Menschen, die unter der Brücke schlafen? Oder fängt Obdachlosigkeit schon an, wenn ich keinen sicheren Ort habe, an den ich mich zurückziehen kann? Diese Fragen sind verknüpft mit der Frage nach unseren Ambitionen, das Problem der Obdachlosigkeit zu bekämpfen.
Reicht es aus, wenn jeder und jede Obdachlose einen Schlafplatz in einer Notunterkunft hat? Sollten wir unsere Ambitionen nicht höher hängen? Mit solchen Überlegungen ist es aber nicht getan. Um Obdachlosigkeit zu überwinden, müssen viele Disziplinen zusammenkommen. Einige Beispiele: Die Stadtplanung kann helfen, indem sie bezahlbaren Wohnraum schafft und integrative Stadtviertel plant. Die Volkswirtschaft analysiert die ökonomischen Ursachen von Obdachlosigkeit und entwickelt Strategien zur Einkommenssicherung. Die Soziologie untersucht die sozialen Ursachen.
Welche Erfahrungen und Modelle aus anderen Ländern könnten beispielhaft für Deutschland sein?
Da man beim Wohnen schlecht großflächige Experimente machen kann, sind Beobachtungen aus anderen Ländern wichtige Anhaltspunkte, was funktionieren kann. Lösungen lassen sich selten direkt übertragen, bieten aber Anregungen.
Wien ist ein gutes Beispiel dafür, wie sozialer Wohnungsbau gelingen kann. In Dänemark gibt es eine Bodenwertsteuer, die auf den Wert des Grundstücks erhoben wird. Anders als bei der deutschen Grundsteuer ist die Bodenwertsteuer unabhängig von den darauf befindlichen Gebäuden oder deren Wertverbesserung z. B. durch Modernisierung. Sie soll die Effizienz der Landnutzung erhöhen und Spekulationen reduzieren. In Schottland und vielen skandinavischen Ländern wird ein „Housing First“-Ansatz umgesetzt, der Obdachlose zunächst in eine eigene Wohnung bringt. Dort hat man gesehen: Probleme wie Arbeitslosigkeit oder Drogenabhängigkeit lassen sich leichter lösen, wenn man ein Dach über dem Kopf hat.
Sie selbst forschen in den Bereichen Wirtschaft und Philosophie, insbesondere zur Ethik. Welche ethischen Überlegungen sollten bei Wohnprojekten berücksichtigt werden?
Die ethische Herausforderung besteht in der Abwägung der vielen Überlegungen, die bei der Planung und Umsetzung von Wohnprojekten relevant sind. Wohnraum soll bezahlbar sein. Aber Wohnungen sollen zum Beispiel auch hohen Sicherheitsanforderungen entsprechen und ökologische Ziele erfüllen. Unsere Wunschliste ist lang. Aus ethischer Sicht wird es spannend, wenn sich nicht alle diese Ziele vollständig erfüllen lassen.
Und inwiefern können philosophische Ansätze zu einem besseren Verständnis der sozialen und ethischen Aspekte von Wohnen beitragen?
Wenn bezahlbare Wohnungen knapp sind, ziehen sich die verschiedenen Parteien am Wohnungsmarkt schnell auf ihre jeweiligen Interessen zurück. Ein philosophischer Ansatz erlaubt, hinter die Rhetorik der Verteilungskämpfe zu blicken und zu fragen, wie Nutzen und Lasten auf dem Wohnungsmarkt gerecht verteilt werden können. Der Philosoph John Rawls hat für diesen Ansatz die Metapher des ‚Schleiers des Nichtwissens‘ gefunden. Demnach ist die Lösung gerecht, auf die wir uns einigen würden, wenn wir nicht wüssten, welche Rolle wir am Wohnungsmarkt haben: Mietende oder Vermietende, Wohnungsbaugenossenschaft oder Immobilienverwalter, Bestandsmieter oder Wohnungssuchende.
Gibt es im Projekt Pläne für Kooperationen mit der Praxis bzw. Kontakt zur Politik?
Primär geht es darum, Forschende zu vernetzen. Gerade in diesem praxisrelevanten Feld sind Forschungsergebnisse aber häufig unmittelbare Orientierungspunkte für die Politik. Teilnehmende haben sich etwa mit der Frage beschäftigt, welchen Einfluss „Airbnb“ auf Mietpreise in dichtbesiedelten Regionen hat. Die Ergebnisse werden von Stadtverwaltungen aufgegriffen, wenn sie Restriktionen für Kurzzeitvermietungen erwägen. Einige der Forschenden sind auch direkt politisch aktiv – als Staatssekretäre oder Aktivistinnen.
Über das Projekt
Im Projekt „Just Housing in Europe“ arbeiten 20 europäische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler u. a. aus Philosophie, Wirtschaftswissenschaften, Humangeographie, Stadtplanung, Rechtswissenschaft sowie Sozial- und Politikwissenschaft zusammen. Ziel des Projektes, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit gut 78.000 Euro gefördert wird, ist, zu einem differenzierten Verständnis des komplexen Zusammenspiels von Wohnraumpolitik, Marktdynamik und sozialer Gerechtigkeit beizutragen und Vorschläge für ein gerechtes Wohnsystem anzubieten.
Forschen und Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen und Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekt genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.