Englisch- und Matheunterricht im VergleichMut zur Lücke?! Lehrkräfte und der Umgang mit UngewissheitSerie Forschen und Verstehen
28. Februar 2024, von Anna Priebe
Foto: iStock/Vitalii Petrushenko
Von Gruppenarbeit geprägter Unterricht – in einer Fremdsprache, die sich ständig verändert und im Alltag oft anders gesprochen wird als in der Schule: Englischlehrkräfte sind vielfach mit Ungewissheit konfrontiert. Wie der Umgang mit ihr gelingt, welche Rolle die Biografie der Lehrkraft spielt und was das für das Lehramtsstudium bedeutet, berichten Prof. Dr. Andreas Bonnet und Ioana Chiotoroiu von der Fakultät für Erziehungswissenschaft im Interview.
„Ich gehe jeden Tag verunsichert in den Unterricht“ – solche Aussagen hört man von Lehrkräften sicher selten so direkt. Wie erforscht man also Ungewissheit?
Chiotoroiu: Es ist tatsächlich nicht so, dass Lehrpersonen ständig unsicher in den Unterricht gehen oder das explizit artikulieren, sondern wir beobachten das eher in den unbewussten Handlungen in der Praxis, die wir als Forschende begleiten. Wir gehen davon aus, dass die Lehrenden, so wie wir alle, diesen Habitus – also wie sie Ungewissheit empfinden und mit ihr umgehen – im Laufe des Lebens entwickeln.
Um dem auf den Grund zu gehen, führen wir Interviews, bei denen wir die Lehrenden ausführlich von ihrem beruflichen Werdegang und von ihrem Unterricht erzählen lassen. Die Fragen sind relativ offen gestellt und die Gespräche können ein bis zwei Stunden dauern.
Wo kommt es denn bei Englischlehrkräften konkret zu Ungewissheit im Unterricht?
Chiotoroiu: Grundsätzlich gibt es bei allen Lehrkräften – unabhängig vom Fach – eine sogenannte generische Ungewissheit. Denn sie unterrichten zwar mit erprobten Methoden, aber man kann die Informationen ja nicht direkt in die Köpfe der Schülerinnen und Schüler pflanzen. Dasselbe gilt natürlich auch für uns an der Universität: Es ist immer ein Stück weit ungewiss, ob Schülerinnen und Schüler bzw. Studierende das Wissen aufnehmen, anwenden oder eben nicht.
Und dazu kommen dann noch fachspezifische Unwägbarkeiten?
Chiotoroiu: Ja, und da geht es tatsächlich schon beim Sprachlichen, also bei den Vokabeln, los. Denn Sprache ist immer vielgestaltig. Einzelne Wörter können verschiedene Bedeutungen haben und die Sprache verändert sich ständig. Was Wörter bedeuten und wie man sie verwendet, ist damit nicht zu 100 Prozent eindeutig.
Bonnet: Eine andere Sache, die im Englischunterricht eine große Rolle spielt, ist die Grammatik. Dabei ist die Schulgrammatik eine sehr vereinfachende Formalisierung von Sprache. Der Klassiker sind ‚if-Sätze‘. In der Schule lernt man drei Typen und wie man sie verwendet. In der gesprochenen Sprache des Alltags und auch in der Literatur gibt es sie in ihrer Reinform aber kaum. Das fällt in der Schule meist unter den Tisch und es wird so getan, als sei die Sache mit den drei Typen von ‚if-Sätzen‘ eindeutig.
Hinzu kommt dann, dass der Unterricht selber in einer Fremdsprache gehalten wird. Es gibt Untersuchungen mit Lehrkräften, die zeigen, dass Englischlehrerinnen und -lehrer Probleme damit haben, eine sogenannten ‚Professional Confidence‘ – also ein positives Selbstbild als Lehrkraft – zu entwickeln. Sie sind innerlich überzeugt, dass Muttersprachlerinnen und -sprachler die besseren Englischlehrenden; selbst sind sie aber keine. Wir Englischlehrpersonen unterrichten quasi mit einem permanenten Minderwertigkeitskomplex. Das ist vollkommen unnötig, ja sogar widersinnig, aber so hat uns schon unsere eigene Schulzeit sozialisiert.
Englischlehrpersonen unterrichten quasi mit einem permanenten Minderwertigkeitskomplex
Können Sie ein konkretes Beispiel für eine Ungewissheit im Unterricht nennen?
Bonnet: Beim kooperativen Lernen geht es darum, dass sich die Schülerinnen und Schüler Wissen gemeinsam in Gruppen erarbeiten. Als Lehrperson soll man eigentlich gar nicht intervenieren und quasi Frontalunterricht im Kleinen abhalten. Dazu gehört auch, dass in kooperativen Unterrichtsabschnitten am Ende der Stunde keine zentrale Sicherung von Unterrichtsinhalten stattfinden sollte, sondern man auch dies den Gruppen überlässt. In unserem letzten Forschungsprojekt haben Lehrkräfte aber doch eingegriffen und zusammengefasst, obwohl sie sich eigentlich vorgenommen hatten, es nicht mehr zu tun.
Sie vergleichen in Ihrer Forschung auch den Umgang mit Ungewissheit von Lehrkräften verschiedener Fachrichtungen.
Bonnet: Wir vergleichen in Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen von der Universität Marburg Mathe- und Englischlehrkräfte.
Chiotoroiu: Und wir fangen an, Unterschiede im Umgang mit Ungewissheit zu erkennen, die spezifisch sein könnten. Aber wir können noch keine absoluten Aussagen treffen, da wir noch im Forschungsprozess sind. Man kann aber sagen: Ungewissheit ist in beiden Fächern gleichermaßen da.
Bonnet: Neben den Mathe- und Englischlehrkräften haben wir noch eine Vergleichsgruppe aus den USA, nämlich Lehrkräfte, die dort Englisch als Zweitsprache unterrichten, zum Beispiel bei Kindern mit Einwanderungshintergrund. Die empfinden Ungewissheit auf einer viel fundamentaleren Ebene und sehen sich nicht als Sprachlehrkraft, sondern als Sozialarbeitende. Bei ihnen geht es darum, Kindern Teilhabe an der Mehrheitskultur zu ermöglich oder auch mit der Angst vor Abschiebung umzugehen.
Wie nutzen Sie die Erkenntnisse? Sollten – zugespitzt formuliert – nur Leute mit einer bestimmten Biografie Lehrkraft werden?
Bonnet: Nein, uns geht es um etwas anderes. Wir haben unter anderem festgestellt, dass die Frage, ob jemand im Unterricht zum Beispiel viel auf kooperatives Lernen setzt, nicht davon abhängt, ob die Person viel explizites Wissen dazu hat. Es gibt Lehrkräfte, die sogar Aufsätze über kooperatives Lernen geschrieben haben, es aber trotzdem selbst nicht anwenden.
Die Entscheidung scheint vielmehr davon abzuhängen, wie die Lehrperson mit Ungewissheit umgeht und wieviel Vertrauen sie in die Kompetenz ihrer Schülerinnen und Schüler hat. Sie wird damit auf einer tieferliegenden Ebene getroffen, die sich im Laufe des Lebens formt. Kann ich Unsicherheit aushalten und sogar wertschätzen? Wie viel Kontrollbedürfnis bzw. Vertrauen habe ich? Es kommt aber nicht darauf an, wie das bei einer Person absolut ausgeprägt ist, sondern auf die Frage: Was mache ich als Individuum mit dieser Disposition? Und da fängt Lehrkräftebildung an.
Chiotoroiu: Wir müssen uns diese Vorprägungen bewusst machen und die Forschungserkenntnisse in die Lehrkräftebildung einbringen. Denn die Erfahrungen im Studium beeinflussen, wie die Studierenden später selbst unterrichten. Es scheint so zu sein, dass die Art und Weise des Studiums noch prägender für ihre spätere Lehrpraxis ist als die Theorien, die wir ihnen mitgeben. Das heißt, Studierende können im Studium ihre Ungewissheitstoleranz verändern. Wir versuchen zum Beispiel bewusst, eine positive Fehlerkultur zu leben und nicht nur zu predigen.
Wir erarbeiten gemeinsam mit den Studierenden die Modulprüfung
Bonnet: Prüfungen sind dabei auch ein wichtiges Thema. Wir haben ein Setting eingeführt, in dem wir gemeinsam mit den Studierenden die Modulprüfung erarbeiten, um ihnen kooperatives Lernen hautnah zu vermitteln. Das kennen die meisten gar nicht, weil man die Prüfungsform sonst immer am Semesterbeginn mitgeteilt bekommt. Das geht aber beim kooperativen Lernen nicht. Das ist sehr irritierend für die Studierenden und manche fragen immer wieder: Wie sieht die Prüfung denn jetzt aus? Aber wir schauen gemeinsam, welcher Stoff im Fokus stehen sollte und wie geprüft wird: Geht es eher um Reflexion? Geht es eher um Faktenwissen?
Also radikal kooperativ.
Bonnet: Ja, so kann man das sagen. Für uns ist es einfach wichtig, in der Lehre alternative Unterrichtsszenarien zu berücksichtigen und den Studierenden neue Perspektiven zu ermöglichen. Es ist dann später ihre professionelle Entscheidung, welche Inszenierungsformen von Unterricht sie an ihrer späteren Schule umsetzen wollen. Wir haben zum Beispiel mehrere Auslandsprogramme, wo die Studierenden Unterrichtsrealität in Ghana oder den USA kennenlernen. Studien zeigen, dass Studierende – wenn diese Erfahrungen gut begleitet werden – in ihren Vorstellungen erst einmal irritiert werden, aber dann lernen, mit Ungewissheitssituationen besser umzugehen.
Gibt es auch Ansätze für die Schulpraxis?
Bonnet: Wir werden aus der Forschung auf jeden Fall Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte entwickeln. Aktuell kooperieren wir zudem in einem Transferforschungsprojekt mit einer Stadtteilschule. Sie wird gerade gegründet und wir werden den Prozess begleiten. Es soll offene Räume und ganz neue Unterrichtskonzepte geben. Wir bringen dazu unser Wissen zusammen, aber wo uns das hinführt, müssen wir sehen.
Das Projekt
Das Forschungsprojekt „Professionalisierung von Mathematik- und Englischlehrpersonen (ProME)“ ist Teil des fakultären Forschungsschwerpunktes „Ungewissheit als Dimension pädagogischen Handelns“, in dem die Ungewissheit aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird. Prof. Dr. Andreas Bonnet, Professor für Erziehungswissenschaft – Didaktik der englischen Sprache und Literatur, und Ioana Chiotoroiu, Wissenschaftliche Mitarbeiterin in diesem Arbeitsbereich, arbeiten dabei aus professionstheoretischer Perspektive, die das Handeln der Lehrkräfte, ihre berufliche Identitätsfindung und die daraus erwachsenden Anforderungen an die Lehrerbildung in den Fokus nimmt. Sie kooperieren in dem Projekt unter anderem mit Prof. Dr. Uwe Hericks vom Institut für Schulpädagogik der Philipps-Universität Marburg.
Forschen und Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen und Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekt genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.