Nachhaltiger MINT-Unterricht„Vernetztes Denken muss gelernt und gefördert werden“Serie Forschen & Verstehen
7. August 2023, von Anna Priebe
Foto: UHH/Schulz
Viele aktuelle Probleme wie der Klimawandel sind sehr komplex. In der Schule werden die Themen aber getrennt aus der jeweiligen Perspektive der Fächer unterrichtet. Das Projekt „Mint4All“ will nun die verschiedenen Fachperspektiven zusammenzubringen. Wie das aussehen könnte, erklären PD Dr. habil. Katrin Vorhölter und Prof. Dr. Sandra Schulz aus der Fakultät für Erziehungswissenschaft.
MINT-Unterricht findet in der Regel nach Fächern getrennt statt, also in Mathe-, Informatik- oder Physikstunden. Was ist daran verkehrt?
Schulz: Um die komplexen Themen und Probleme unserer Welt zu verstehen, benötigen wir vernetztes Denken – und das muss gelernt und gefördert werden, etwa indem wir in der Schule Fächer zusammenbringen. In vielen anderen Ländern passiert das bereits, in den USA zum Beispiel gibt es einen interdisziplinären Science-Unterricht. In Deutschland fehlen bisher Untersuchungen dazu, ob ein interdisziplinärer Unterricht das vernetzte Wissen gegenüber dem fächergetrennten tatsächlich mehr fördert.
Vorhölter: Was wir durchaus wissen: Der Transfer geschieht nicht automatisch. Das Wissen, das in einem Fach erworben wird, wenden die Schülerinnen und Schülern nicht ohne Weiteres in einem anderen Fach oder für Probleme außerhalb der Schule an. Dieses Zusammenbringen des Wissens muss angeleitet werden. Wir sind uns aber auch bewusst, dass ein solides Fachwissen notwendig ist, um komplexe Probleme zu bearbeiten. Jedes Fach muss also seinen Stellenwert behalten.
Eine komplizierte Gemengelage …
Vorhölter: Ja, so ist es. Unsere Herausforderung ist zudem, dass in Deutschland in der Lehramtsausbildung spezifische Fächer studiert werden, und die Lehrkräfte sich in der Folge nur als Expertinnen und Experten für diese Fächer fühlen. Das heißt, wenn eine Mathe-Lehrkraft auf einmal eine Informatikstunde halten soll, dann fühlt sie sich erstmal überfordert. Das muss also gut eingebettet und angeleitet sein.
Schulz: Man muss aber sagen: Es gibt auch graduelle Abstufungen zwischen einem Unterricht, der gar nicht vernetzt ist, und einer kompletten Auflösung der einzelnen Fächer. Für die Einführung in der Schule muss man Lernumgebungen und Materialien gestalten, die eine verbindende Komponente haben. Da ist ganz viel Spielraum.
Wie sieht das Unterrichtskonzept aus, das Sie entwickelt haben?
Schulz: In unserem Projekt betrachten wir konkret das Thema Klimawandel und den CO2-Ausstoß. Um zu verstehen, wie der reduziert werden kann, reicht ein Fach alleine nicht aus. Wir haben daher für die 9. Klassenstufe sogenannte Lernumgebungen zu diesem Thema entwickelt.
Vorhölter: Es gibt eine Versuchsgruppe, die die zwei neuen Lernumgebungen umsetzt. Sie umfassen rund drei Wochen Schulunterricht in drei Fächern: Mathematik, Informatik und Physik bzw. Mathematik, Informatik und Geografie. Sowohl das Fachwissen als auch das Vernetzungswissen wird vor und nach der Intervention mit Tests gemessen.
Daneben gibt es eine Kontrollgruppe, für die wir ebenfalls spezifischen Unterricht entwickelt haben: Sie thematisieren dieselben Inhalte, diese werden aber klassisch im getrennten Fachunterricht adressiert. Hier fehlt also der Fokus auf die Vernetzung. Wir testen die Schülerinnen und Schüler aber mit denselben Tests und wollen schauen, ob das Vernetzungswissen in der Versuchsgruppe deutlicher gestiegen ist als in der Kontrollgruppe. Besonders spannend ist für uns zudem, ob das Fachwissen sich gleich entwickelt.
Wir liefern ein Konzept, das Schulen direkt übernehmen können
Die Schulen erhalten also ein umfassendes Paket?
Schulz: Wir liefern ein Gesamtkonzept, das Schulen direkt übernehmen können, das konform mit den bestehenden Lehrplänen ist und etwa die vorgegebenen Stundenzahlen der Fächer berücksichtigt. Es soll von den Schulen schließlich auch nach der Studie genutzt werden können. Es bringt nichts, ein Projekt zu entwickeln, dass in der Theorie super funktioniert, aber nicht in der Praxis ankommt.
Vorhölter: Wir liefern alles, was es braucht, um den Unterricht durchzuführen. Das heißt, die Lehrkräfte bekommen Material, um sich selbst auf die Unterrichtsstunden vorzubereiten und das Gesamtkonzept umsetzen zu können. Wir stellen aber auch konkretes Unterrichtsmaterial zur Verfügung – digital und analog, von einzelnen Arbeitsblättern über zusammenfassende Folien bis zu Hilfsmaßnahmen bei bestimmten Fragen oder Problemen.
Ein besonderer Fokus im von Ihnen entwickelten Unterricht liegt auf der Mathematik. Warum?
Vorhölter: Die Mathematik hat als Schwerpunkt-Fach eine gewisse Stundenanzahl und wird von Fächern wie der Informatik, der Physik und in Teilen auch der Geografie als Sprache verwendet. Viele der mathematischen Konzepte, die dafür benötigt werden, haben sich die Schülerinnen und Schüler eigentlich bereits in vorherigen Jahrgangsstufen erarbeitet. Doch Studien zeigen, dass sie oftmals nicht in der Lage sind, diese Konzepte flexibel in inner- wie außermathematischen Problemsituationen anzuwenden.
In unserem Projekt greifen wir diese Inhalte aus früheren Stufen daher auf und fokussieren die Kompetenz des mathematischen Modellierens, bei der es gerade darum geht, reale Probleme mithilfe mathematischer Verfahren zu lösen. Hierdurch erlangen die Schülerinnen und Schüler gleichzeitig ein vertieftes Verständnis für die angewendeten grundlegenden mathematischen Verfahren.
Wie ist der Stand des Projekts?
Schulz: Nach den Sommerferien läuft die Bewerbungsphase für die Schulen an. Wir planen, Anfang kommenden Jahres, zu Beginn des zweiten Schulhalbjahres, mit der Durchführung in den Klassen starten zu können.
Wie schätzen Sie die Bereitschaft der Schulen zum Umdenken ein?
Vorhölter: Ich arbeite seit zwölf Jahren in Hamburg mit sehr unterschiedlichen, aber immer sehr engagierten Lehrkräften zusammen. Darüber hinaus ist in den neuen Hamburger Bildungsplänen festgeschrieben, dass BNE – also die Bildung für Nachhaltige Entwicklung – in den Fachunterricht integriert werden muss. Die Schulen müssen also in den kommenden Jahren entsprechende Konzepte entwickeln. Wir bieten ihnen jetzt die Möglichkeit, ein solches Konzept auszuprobieren. Daher hoffen wir auf eine rege Beteiligung – auch von Lehrkräften, die vielleicht noch etwas skeptisch sind. Ihnen können wir Wege aufzeigen, wie es gehen kann.
Schulz: Wir wollen nicht nur schauen, wie die Effekte des fächergetrennten und des fächerverbindenden Unterrichts sind, sondern auch miterheben, was die Bedingungen für das Gelingen sind. Wo gibt es Probleme und Ängste? Wo gibt es Fortbildungsbedarf? Das sind ja auch Fragen, die uns in dem Forschungsprojekt beschäftigen.
Das Projekt „Mint4all“
Das Projekt „Mint4all“ wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit ca. 600.000 Euro gefördert und läuft noch bis Ende 2025 (FKZ: 16MF1017). Neben Prof. Dr. Sandra Schulz und PD Dr. habil. Katrin Vorhölter sind auch Prof. Dr. Dietmar Höttecke (Professor für Didaktik der Physik), Prof. Dr. Sandra Sprenger (Professorin für Didaktik der Geographie), Prof. Dr. Marcus Schütte (Professor für Didaktik der Mathematik – Primarstufe) sowie drei weitere wissenschaftliche Mitarbeiterinnen aus dem Arbeitsbereich der Didaktik der gesellschaftswissenschaftlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer beteiligt.
Forschen & Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen & Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekt genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.