Historische MusikforschungWenn Digitalisierung hilft, Musik zu rekonstruieren
19. Juli 2023, von Viola Griehl
Foto: ylanite/pixabay
Um 1600 änderte sich Grundlegendes in der Instrumentalmusik: Nur noch die Basslinie wurde genau festgelegt, für die Harmonien gab es lediglich Ziffern und andere Symbole. Das sogenannte Generalbasszeitalter dauerte bis etwa Mitte des 18. Jahrhunderts. Welche Bandbreite und Grenzen es bei diesen Improvisationen gab, wollen Dr. Juliane Pöche und Prof. Dr. Ivana Rentsch vom Institut für Historische Musikwissenschaft in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt herausfinden.
Das Generalbasszeitalter überließ die Akkorde dem Improvisationstalent der Musikerinnen und Musiker. Wie kann man heute Musik untersuchen, die improvisiert und nicht aufgeschrieben wurde?
Wegen der flüchtigen Natur von Musik ist alles, was nicht auf Tonkonserve aufgenommen wurde, unwiederbringlich verloren. Erschwerend kommt hinzu, dass es bei allen musikalischen Notationen grundsätzlich unmöglich ist, sämtliche relevante Charakteristika einer Aufführung festzuschreiben. Für eine Untersuchung historischer Notentexte brauchen wir daher zwingend ein Klangideal, das wir erst rekonstruieren müssen. Jede Annäherung an eine historische Musikpraxis ist deshalb auf Paratexte angewiesen: Notizen, Skizzen, handschriftliche oder direkt in die Notenausgaben integrierte Aufführungshinweise, Angaben zur Besetzung, zu alternativen Stimmführungen, Tempi etc.
Warum ist das Generalbasszeitalter für die Musikgeschichte so interessant?
In der Musik der Frühen Neuzeit mischten sich kompositorische Ansprüche und satztechnische Neuerungen mit aufführungspraktischen Freiheiten. Es ging nicht mehr nur um kirchenmusikalische Kontexte, sondern darum, in gesellschaftlichen Kreisen geistreich zu unterhalten. Weil man dem Puls der Mode folgen wollte, konnte sich auch das Modernste durchsetzen, was die italienische Musikwelt zu bieten hatte: die Dur-Moll-Tonalität und den Generalbass.
In der Generalbasspraxis wurde faktisch nur ein musikalisches Gerüst notiert, das erst in der Aufführung zu einem vollgültigen musikalischen Satz avancierte. Daher bestand eine notierte Komposition des 17. Jahrhunderts im Grunde aus zahllosen Varianten, die alle – unabhängig davon, ob sie etwa mit nur zwei oder mit 21 Stimmen ausgeführt werden – ästhetisch ebenbürtig waren.
Sie werden 585 Kompositionen auf ihre Varianten hin untersuchen und die erarbeiteten kritischen Editionen zur Verfügung stellen. Weshalb konzentrieren Sie sich auf deutsche Werke?
Weil die Generalbasspraxis des deutschen Sprachraums inmitten eines ohnehin sehr variablen Repertoires eine besonders große Flexibilität aufwies. Hier wurde nicht nur die Generalbassbegleitung selbst improvisiert, vielmehr standen gleich alle Parameter einer Komposition zur Disposition. Grund dafür waren die sehr unterschiedlichen Bedingungen des deutschen Musiklebens, die nicht zuletzt durch den Dreißigjährigen Krieges stark geprägt wurden.
Dass wir uns bei der digitalen Modelledition auf deutsche Kompositionen beschränken, erklärt sich genau dadurch, dass sich dort die größten methodischen Herausforderungen für die editorische und digitale Bearbeitung stellen. Daher können sich die im Rahmen des Projektes entwickelten Tools im Anschluss für das gesamte europäische Generalbassrepertoire der Frühen Neuzeit anwenden lassen.
Inwiefern hat die Technik aus dem 17. Jahrhundert Musikstile späterer Jahrhunderte beeinflusst?
Mit dem Generalbass setzte sich zugleich die Dur-Moll-Tonalität durch, die die westliche Musik bis zum heutigen Tag dominiert. Sie löste die Kirchentonarten ab, eine bis in die griechische Antike zurückreichende Tonreihe.
Für die Frühe Neuzeit singulär war jedoch die enorme Flexibilität der Aufführungspraxis: Es galt, geistreich improvisierend, je nach Situation und Stimmung den richtigen Ton zu treffen. Aber während sich die Dur-Moll-Tonalität nachhaltig etablierte, ging die Freiheit der Improvisation wieder zurück. Grund war, dass sich die ästhetische Idee eines unveränderlichen ‚Opus‘ seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert immer mehr durchsetzte, was eine Fokussierung des Notentextes zur Folge hatte. Die verlorene aufführungspraktische Freiheit zu rekonstruieren, steht im Zentrum des Projektes.
Was soll die digitale Präsentation alles können?
Mit digitalen Mitteln wird der enormen aufführungspraktischen Variabilität der Kompositionen und damit einem zentralen Moment der frühneuzeitlichen Musikästhetik Rechnung getragen. Während im herkömmlichen Notendruck notgedrungen eine einzige Fassung präsentiert werden muss, ist es nun im digitalen Raum möglich, über eigens programmierte Pfade für jede edierte Komposition die gesamte Bandbreite der historisch rekonstruierbaren Varianten zu generieren. Ganz im Geiste der Frühen Neuzeit lässt sich so je nach Kontext eine passende Variante auswählen.
Informationen zum Projekt
Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Langfristvorhaben „Digitale Musikedition: Offene Werkgestalt im 17. Jahrhundert“ unter der Leitung von Prof. Dr. Ivana Rentsch und Dr. Juliane Pöche vom Institut für Historische Musikwissenschaft wird im Sommer 2023 seine Arbeit aufnehmen. Ziel ist, eine Modelledition für das deutsche Generalbassrepertoire des 17. Jahrhunderts zu erarbeiten, die dem offenen Werkverständnis Rechnung trägt. Die dafür entwickelten digitalen Tools sollen als Open Source veröffentlicht werden, um für künftige digitale Editionsprojekte direkt anschlussfähig zu sein. Die Fördersumme des Gesamtprojekts über sieben Jahre beträgt 1,9 Millionen Euro. Für die erste Projektphase bis 2026 sind 815.000 Euro vorgesehen. Die DFG finanziert Langfristvorhaben in den Geistes- und Sozialwissenschaften für mindestens sieben und maximal zwölf Jahre. Gefördert werden Projekte von zentraler wissenschaftlicher Bedeutung, deren Ergebnisse über die Fachgrenzen hinausgehen.
Forschen & Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen & Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekt genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.