Serie „Forschen & Verstehen“„Anders, aber vollkommen richtig im Kopf“: Forschung zu Neurodiversität und Aufmerksamkeit
6. Februar 2023, von Anna Priebe
Foto: mathildr
Das zentrale Nervensystem jedes Menschen umfasst rund 400 Billionen Nervenverbindungen. Aufgrund genetischer Syndrome können die Ausprägungen aber sehr verschieden sein. In dieser Folge von „Forschen & Verstehen“ berichtet Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. André Zimpel von seiner Forschung zu dieser als Neurodiversität bekannten Vielfalt und insbesondere von ihrer Auswirkung auf die Aufmerksamkeit im Schulunterricht.
Sogenannte neurotypische Menschen ohne neurologisches Syndrom können in 200 Millisekunden – dem standardisierten Testintervall – im Schnitt vier Dinge gleichzeitig erfassen. Man spricht von „Chuncks“, die Buchstaben, Zahlen oder Dinge sein können. „Selbst die kompliziertesten Buchstaben in unserem Alphabet bestehen aus nicht mehr als vier Strichen, etwa E oder W“, so Zimpel. Unser gesellschaftliches Leben ist auf diese Wahrnehmungsweise zugeschnitten – auch der Schulunterricht.
„Man kann den Unterricht noch so gut vorbereiten, aber wenn man keine Aufmerksamkeit bekommt, ist alles für die Katz“, fasst Prof. Dr. André Zimpel den Fokus seiner Forschung zusammen. Gemeinsam mit seinem Team beschäftigt er sich mit Neurodiversität, also Veränderungen im zentralen Nervensystem, die zumeist auf Gendefekten beruhen. Sie haben oft direkte Auswirkungen auf die Art und Weise, wie neurodiverse Schülerinnen und Schüler Dinge wahrnehmen.
Neurodiversität verändert die Wahrnehmung
Menschen aus dem Autismusspektrum nehmen zum Beispiel oft deutlich mehr Chunks wahr und erfassen Unterschiede, die für Neurotypische irrelevant sind. Kinder mit Trisomie 21 erkennen dagegen nur zwei Chunks gleichzeitig, wodurch sie mitunter nur das Ende von Wörtern wahrnehmen. „Wenn sie aufgefordert werden, das Wort „Uni-ver-si-tät“ nachzusprechen, würden sie mit „si-tät“ antworten“, so Zimpel.
Die Forschenden entwickeln in ihrer Arbeit Unterrichtsmethoden und Instrumente wie die „Mathildr“-App, die Kinder mit Trisomie 21 beim Rechnen unterstützt. Sie berücksichtigen die besonderen Wahrnehmungen und können so den Lernerfolg deutlich steigern. „Neurodivergente Personen sind anders, aber vollkommen richtig im Kopf“, betont der Erziehungswissenschaftler. Mit den Erkenntnissen könne neurodiversen Menschen lebenslang beim Lernen geholfen werden.
Aktuelle Podcast-Folge zum Forschungsprojekt
In der aktuellen Folge des Podcasts „Bildungsschnack“ der Fakultät für Erziehungswissenschaft berichtet Zimpel, wie die Forschung genau abläuft, welche besonderen Momente er erlebt hat und wie er dafür kämpft, dass nicht nur zu Pränataldiagnostik geforscht wird, sondern auch zur Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen.
Forschen & Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen & Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekt genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.