Antike Inschriften im Fokus„Virtuelle Realität ist ein perfektes Instrument für unseren archäologischen Ansatz“Serie „Forschen & Verstehen“
23. November 2022, von Viola Griehl
Foto: UWA-Projekt Immersive City Scripts, Jenny Gabel
Milet war eine der bedeutendsten Städte der Antike. Das Ruinengelände ca. 80 km südlich von Izmir wird unter der Leitung von Prof. Dr. Christof Berns vom Archäologischen Institut erforscht. Ihn interessiert dabei die Nutzung und Aneignung des Stadtraums durch verschiedene soziale Gruppen. Ein Schlüssel dazu sind Inschriften aus der Kaiserzeit (31 v. Chr. – 312 n. Chr.) – und dabei spielt Virtual Reality eine wichtige Rolle.
Herr Professor Berns, warum haben die Menschen in der Antike an Wände gekritzelt?
Tatsächlich haben Menschen in der Antike alles Mögliche als Schriftträger genutzt: Wände ebenso wie das Straßenpflaster oder die Sockel von Statuen, aber auch Alltagsgegenstände. Inschriften waren ein wirklich allgegenwärtiges Medium öffentlicher Kommunikation. Besonders interessant ist, dass sie von ganz unterschiedlichen Akteurinnen oder Akteuren und in sehr verschiedenen Zusammenhängen verwendet wurden. Da gibt es hochoffizielle Dokumente über die öffentliche Ehrung einer Person oder Publikationen von Kaiserbriefen, aber auch recht knappe Namensnennungen zur dauerhaften Markierung von Sitzplätzen im Theater und vieles mehr. Häufig finden wir auch nichtsprachliche Zeichen, zum Beispiel auf dem Pflaster eingeritzte geteilte Quadrate, die als Spielfelder dienten. Insgesamt verweisen Inschriften damit auf ein sehr breites Spektrum von Aktivitäten.
Wenn wir nun ihre Verteilung im städtischen Raum berücksichtigen, dann können wir unter anderem die politische Bedeutung eines bestimmten Bereichs daran erkennen, dass dort öffentliche Dokumente in großer Dichte publiziert wurden. Dies untersuchen wir in einem Projekt unseres Exzellenzclusters „Understanding Written Artefacts“.
Wer konnte das überhaupt lesen und sich danach richten?
Ganz genau lässt sich das gar nicht bestimmen. Aber die Vielfalt der Handlungszusammenhänge, aus denen Inschriften bezeugt sind, deutet schon darauf hin, dass ein großer Teil der Stadtbewohnerinnen und -bewohner zumindest einfache Texte lesen konnte. Selbst offizielle Inschriften sind zudem nicht unbedingt kompliziert formuliert. Ihr Aufbau ist weitgehend standardisiert und sie verwenden immer wieder das gleiche Vokabular. Außerdem wurden sie oft ergänzend zu anderen Medien eingesetzt.
Ein typischer Fall sind sogenannte Ehrenmonumente. Die können Sie sich so vorstellen, dass eine Porträtstatue auf einem Postament aufgestellt war, das wiederum eine Inschrift trug. Hier ergab sich also schon aus der Form des Denkmals, dass es um die Ehrung einer bestimmten Person ging. Dann reichte es eigentlich, den Namen zu erkennen, um darüber im Bilde zu sein, wem die Auszeichnung galt. Nur wer es genau wissen und beispielsweise erfahren wollte, unter welchen spezifischen Umständen die Ehrung zustande gekommen ist, musste dann schon etwas mehr Griechisch lesen können.
Inwieweit hilft Virtual Reality dabei, die Bedeutung von Inschriften besser zu verstehen?
Die virtuelle Realität (VR) ist ein perfektes Instrument für unseren archäologischen Ansatz, denn für uns ist die Räumlichkeit für das Verständnis der Inschriften zentral, während man Inschriften früher eher als eine spezifische Textgattung verstanden und untersucht hat. Schon das Einmeißeln der Buchstaben in den Stein macht sie ja zu plastischen Gebilden und das beschriebene Monument ist auch dreidimensional. Und schließlich hat die Position einer Inschrift im Stadtraum Einfluss auf ihre Aussage. Mit herkömmlichen Verfahren wie Plänen oder Fotografien lässt sich das alles nur unzulänglich erfassen.
Mithilfe der VR bewegen wir uns durch das gesamte Bauwerk und erleben unmittelbar, wie die Inschriften wirkten
In einem ersten Schritt haben vor allem die Doktorandinnen Jenny Gabel aus der Informatik und Lauren Osthof aus der Archäologie/Alten Geschichte eine VR des milesischen Theaters entwickelt. Mit ihrer Hilfe bewegen wir uns durch das gesamte Bauwerk und erleben dabei unmittelbar, wie die zahlreichen dort angebrachten Inschriften wirkten und in welchem Verhältnis sie zueinander standen. Zudem können wir die VR mit Avataren, also abstrahierten Darstellungen von Menschen, bevölkern, um festzustellen, wie die mit den Inschriften verknüpften Aktivitäten den öffentlichen Raum geprägt haben.
Was haben Sie auf diese Weise schon über die Bedeutung der Inschriften im öffentlichen Raum herausgefunden?
Lauren Osthof hat in mühevoller Arbeit alle ortsfesten Inschriften in Milet dokumentiert, darunter eben auch zahlreiche der vorhin erwähnten Spielfelder, die zuvor eigentlich kaum beachtet worden waren. Ein faszinierendes Ergebnis dieser Arbeit ist, dass Müßiggang ein im kaiserzeitlichen Milet sehr präsentes Phänomen gewesen ist. Vor allem am Rand von Plätzen, auf den Stufen von Denkmälern oder im Eingangsbereich von Gebäuden findet man sehr viele solcher Spielfelder. In der VR wird anschaulich, wie sehr wir uns den Stadtraum in manchen Bereichen vorstellen müssen als dominiert von Menschen, die sich sitzend und spielend die Zeit vertrieben. Dadurch entsteht natürlich auch ein verändertes Bild der antiken Stadt, das eben nicht mehr ausschließlich durch unbelebte Architektur geprägt wird.
Sie wurden vom türkischen Kulturministerium zum Grabungsleiter ernannt. Welche Bedeutung hat die Ausgrabung für die Türkei und wie arbeiten Sie mit den türkischen Kolleginnen und Kollegen zusammen?
Die Ausgrabung hat innerhalb der Türkei eine sehr große Bedeutung. Das hängt damit zusammen, dass Milet mit seiner langen, vom Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. bis in das 15. Jahrhundert n. Chr. reichenden Geschichte ein bedeutender historischer Ort ist. Zudem ist die Ausgrabung selbst sehr traditionsreich, denn sie ist bereits 1899 von den Berliner Museen aufgenommen worden. Umso dankbarer bin ich der türkischen Generaldirektion für Altertümer und Museen dafür, dass sie mir die Leitung der Grabung anvertraut hat. Wir arbeiten dabei eng mit Kolleginnen, Kollegen und Studierenden von der Istanbuler Mimar Sinan Universität zusammen und auch mit dem lokalen Museum. In den letzten Jahren hat sich die Grabung zudem immer mehr zu einem internationalen Projekt entwickelt. Zuletzt konnten wir dort mit Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes eine Sommerschule für türkische Studierende abhalten. Besonders schön ist es, dass sich aus solchen Kooperationen häufig weitere Verbindungen ergeben, wie etwa wechselseitige Gastaufenthalte von Studierenden oder Forschenden.
Das Projekt
Die Miletgrabung wird mit Genehmigung der Generaldirektion für Kulturgüter und Museen der Republik Türkei von der Universität Hamburg (Institut für Archäologie und Kulturgeschichte des antiken Mittelmeerraumes) in Kooperation mit der Mimar Sinan Güzel Sanatlar Üniversitesi Istanbul und der École normale supérieure Paris durchgeführt und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie der Agence Nationale de la Recherche gefördert. Das Projekt „Immersive City Scripts: Inscriptions and the Construction of Social Spaces in Miletus (Asia Minor)“ unter der Leitung von Prof. Dr. Christof Berns (Klassische Archäologie), Prof. Dr. Kaja Harter-Uibopuu (Alte Geschichte) und Prof. Dr. Frank Steinicke (Human-Computer-Interaction) wird finanziert im Rahmen des Exzellenzclusters »Understanding Written Artefacts«. Mitarbeit: Jenny Gabel, Nathalie Martin, Lauren Osthof. An der 3D-Dokumentation des Theaters hat das Labor für Photogrammetrie der Berliner Hochschule für Technik (Prof. Ing. Michael Breuer, Felix Neupert und Johannes Neis) mitgewirkt.
Forschen & Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen & Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekt genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.