Erwartungen bei Lehrkräften und ihre Folgen„Es ist nicht einfach, Stereotype allein durch Wissen aufzubrechen“Serie „Forschen & Verstehen“
27. Oktober 2022, von Anna Priebe
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Geschlechterstereotype können stark beeinflussen, welche Erwartungen eine Lehrkraft an Schülerinnen oder Schüler hat. Im Projekt „TEG-Know“ haben Forschende der Fakultät für Erziehungswissenschaft – in Kooperation mit dem Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel und der Freien Universität Berlin – untersucht, ob sich pädagogisches Fachwissen positiv auswirkt. Prof. Dr. Jan Retelsdorf berichtet für unsere Serie „Forschen & Verstehen“ über die Herausforderungen der Forschung zu Stereotypen in der Schule.
Warum ist es so wichtig, sich im Zusammenhang mit Unterricht mit Stereotypen zu beschäftigen?
Wir alle haben Stereotype. Daher muss man aus meiner Sicht alle Menschen, die in ihrem Berufsalltag andere beurteilen müssen, dazu bringen, ihr professionelles Handeln zu hinterfragen. Auch Lehrkräfte haben Stereotype, die sie nicht so einfach los werden. Aber sie dürfen auf der Handlungsebene nicht relevant werden. Lehrkräfte müssen sich überprüfen: Wie komme ich zu meinem Urteil? Wird das dem Individuum gerecht?
Es heißt oft, Jungen seien gut in Sport und Mädchen schlecht in Mathe. Wie erforscht man, ob bei Lehrerinnen und Lehrern solche Geschlechterstereotype vorhanden sind?
Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, wie man Stereotype erfassen kann. Wobei man gleich sagen muss, dass beide nicht perfekt sind. Bei impliziten Methoden arbeiten wir häufig mit Reaktionszeitmessungen: Die Probandinnen und Probanden müssen zum Beispiel am Monitor bestimmte Begriffe wie „Rechnen“, „Mathematik“ oder „Lesen“ jeweils anderen Begriffen wie Mädchen oder Jungen zuordnen, und es wird gemessen, wie schnell das geschieht. Im Grunde misst man damit erstmal nur Assoziationen, ohne genau zu wissen, ob es auch Stereotype sind.
Bei expliziten Methoden nennt man den Probandinnen und Probanden Einschätzungen wie in Ihrer Frage und sie müssen sich dazu verhalten. Hier besteht prinzipiell die Gefahr, dass sozial erwünschte Antworten gegeben werden, aber wir sind manchmal selbst überrascht, welchen Stereotypen da offen zugestimmt wird.
Welche Auswirkungen haben Stereotype auf die Schülerinnen und Schüler?
Wir gehen davon aus, dass sich Stereotype unter anderem in den Erwartungen, die Lehrerinnen und Lehrer an einzelne Kinder haben, niederschlagen. Bisherige Studien haben gezeigt, dass sich positive Erwartungen gegenüber einem Kind eher positiv auf die Leistung auswirken und negative Erwartungen entsprechend gegenteilig.
Ein Beispiel: Weil Lisa ein Mädchen ist, geht die Lehrkraft vielleicht davon aus, dass sie nicht so gut rechnen kann und entwickelt entsprechend geringere Leistungserwartungen für sie. Diese Erwartungen können sich wiederum in Verhaltensweisen niederschlagen – bewusst oder unbewusst. Das kann etwa bedeuten, dass Lisa seltener aufgerufen wird oder leichtere Aufgaben bekommt. Dadurch sinkt auf Lisas Seite die Motivation, weil sie merkt, dass die Lehrkraft ihr nichts zutraut – und das kann sich in einer geringeren Leistung niederschlagen.
In Ihrem Forschungsprojekt „TEG-Know“ geht es vor allem darum, welchen Einfluss sogenanntes Professionswissen haben kann. Was muss man sich darunter vorstellen?
Professionswissen meint in unserem Projekt vor allem Fachwissen im pädagogischen und psychologischen Bereich. Kein Mensch ist frei von Stereotypen. Aber man könnte annehmen, dass solches Wissen dazu führt, dass sich Lehrkräfte der möglichen Auswirkungen von Stereotypen bewusst sind und versuchen, ihre Erwartungen entsprechend zu korrigieren oder sie keinen Einfluss auf ihr Verhalten nehmen zu lassen.
Wie sind Sie bei der Forschung vorgegangen?
Wir haben mit 50 zweiten Klassen aus Hamburg und Norddeutschland zusammengearbeitet. Zu Beginn des Schuljahres haben wir die Mathematikehrkräfte explizit danach gefragt, wie sie die Jungen und Mädchen hinsichtlich ihrer Fähigkeiten in Mathematik einschätzen. Dabei ging es uns erst einmal eher um das Potenzial als um konkrete Leistungen. Zudem haben wir das Professionswissen der Lehrerinnen und Lehrer mit einem standardisierten Test geprüft.
Am Anfang, in der Mitte und am Ende des Schuljahres haben wir außerdem die Leistung ihrer Schülerinnen und Schüler getestet und sie zu ihrer Motivation im Fach Mathematik befragt. Diese Daten haben wir mit denen der Lehrkräfte verknüpft und geschaut, wie weit sich die geschlechtsspezifischen Erwartungen der Lehrkräfte – in Abhängigkeit von ihrem Professionswissen – tatsächlich auf die Leistungsfähigkeit ihre Schüler auswirken.
Wir haben es mit relativ stark automatisierten Verhaltensweisen zu tun
Gibt es schon erste Ergebnisse?
Bisher konnten wir keine Zusammenhänge mit dem Professionswissen nachweisen. Das heißt, dass ein größeres Professionswissen den Zusammenhang von Stereotypen und Erwartungen mit der Leistung der Schülerinnen und Schüler nicht reduziert hat.
Überrascht Sie das?
Es war ein Stück weit erwartbar, denn wir haben es mit relativ stark automatisierten Verhaltensweisen und Informationsverarbeitungsprozessen zu tun. Aus der sozialpsychologischen Grundlagenforschung wissen wir, dass es nicht einfach ist, nur durch Wissen Stereotype aufzubrechen. Daher sind wir mit einer offenen Haltung in die Studie gegangen, um zu schauen, ob das Professionswissen im Gegensatz dazu doch eine Wirkung hat. Das war ein erster Versuch, in diese Richtung zu schauen. Grundsätzlich ging es in dem Test, den wir verwendet haben, aber auch eher allgemein um pädagogisch-psychologisches Wissen, da zu den Bereichen Urteilsverzerrung und Bewertung noch keine bewährten Tests vorliegen. Hier könnte man entsprechend nachjustieren und schauen, wie spezifisches Wissen in diesen Feldern sich auswirkt.
Das Projekt
Das Projekt „Teacher Expectations, Gender Stereotypes, and Professional Knowledge“ (TEG-Know) wurde im Arbeitsbereich „Pädagogische Psychologie“ der Fakultät für Erziehungswissenschaft durchgeführt und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Es ist eine Kooperation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Hamburg, der Freien Universität Berlin und des IPN – Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel.
Forschen & Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen & Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekt genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.