KI in der MedizinPrognoseprogramm erkennt neurologische KomplikationenSerie „Forschen & Verstehen“
6. September 2022, von Viola Griehl
Foto: pixabay/Bokskapet
Bei vielen Intensivpatientinnen und -patienten muss der Hirndruck ständig überwacht werden, die Diagnostik hängt sehr von der Erfahrung der Behandelnden ab. Der Neurologe Dr. Nils Schweingruber vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf hat ein System auf Basis Künstlicher Intelligenz entwickelt, das kritische Phasen bis zu 24 Stunden im Voraus erkennt. In unserer Serie „Forschen & Verstehen“ stellen wir Forschungsprojekte der Universität Hamburg vor.
Warum ist der Hirndruck bei Hirnverletzungen so entscheidend?
Wird das Gehirn durch eine Verletzung, eine Blutung oder einen schweren Schlaganfall geschädigt, reagiert es häufig mit einer Schwellung. Durch die harte Knochenschale des Schädels kann dieser Schwellung nicht nachgegeben werden. Dann steigt der in der Schädelhöhle herrschende Druck und die Durchblutung des Gehirns sinkt. Dadurch kann es zu einer weiteren, oft schweren und nicht mehr rückgängig zu machenden Schädigung des Gehirns kommen.
Was macht die von Ihnen entwickelte Prognosesoftware?
Das von uns entwickelte System analysiert mithilfe von Methoden des maschinellen Lernens verschiedenste medizinische Daten von schwerkranken Patientinnen und Patienten, beispielsweise Blutdruck, Beatmungsparameter, Laborwerte, Medikamente, Körpertemperatur, Alter, Geschlecht, Größe und Gewicht. Kritische Werte werden so rechtzeitig erkannt und können oft frühzeitig auf steigenden Hirndruck, mögliche Hirngefäßspasmen oder Eintrübungen des Bewusstseins hinweisen. Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte können auf Veränderungen des Gesundheitszustands so viel rechtzeitiger reagieren. Momentan können wir mit unserem Prognoseprogramm bis zu 24 Stunden im Voraus eine kritische Hirndruckphase vorhersagen und auch ermitteln, wie lange diese ungefähr anhalten wird.
Wie testet man eine solche Software im laufenden Betrieb, ohne jemanden zu gefährden?
Eine mögliche Assistenzsoftware wird momentan von uns für einen zukünftigen Einsatz entwickelt.
Wie reagieren die Behandelnden auf die Software?
Wichtig ist, dass das Behandlungsteam weiterhin die volle Kontrolle über die Therapie behalten wird. Eine klinische auf maschinellem Lernen basierende Assistenzsoftware hat den großen Vorteil, dass sie ein Behandlungsteam vor potenziellen Gefahren in der Zukunft warnen kann. Die Reaktion auf die Veränderungen des Gesundheitszustandes der Patientinnen und Patienten bleibt aber auch weiterhin eine zentrale medizinische Aufgabe.
Maschinelles Lernen wird in Zukunft eine immer zentralere Rolle für eine patientenorientierte, individuelle Medizin spielen.
Mit welchen Daten wurde die Künstliche Intelligenz für ihr Programm gefüttert?
Für die Entwicklung der Prognosesoftware wurden große anonymisierte Datensätze von Patientinnen und Patienten genutzt, die auf der Intensivstation des UKE behandelt wurden. Mehr als zwölf Millionen Datenpunkte gingen in die Studie ein. Die Software wurde zusätzlich mithilfe von anonymisierten, intensivmedizinischen Daten aus zwei US-amerikanischen Datenbanken validiert. Wir profitieren bei unserer Studie vom hohen Digitalisierungsgrad des UKE und planen bereits weitere Studien, um den direkten klinischen Nutzen des KI-Systems zu überprüfen.
Inwieweit lässt sich KI auch in anderen intensivmedizinischen Bereichen einsetzen?
Maschinelles Lernen wird in Zukunft bei einem steigenden Digitalisierungsgrad des Gesundheitssystems eine immer zentralere Rolle für eine patientenorientierte, individuelle Medizin spielen. Insbesondere in der Intensivmedizin werden in Zukunft eine noch größere Zahl an Messungen verschiedenster Sensoren in digitaler Form zur Verfügung stehen. Maschinelles Lernen wird hier notwendig sein, um mit unterschiedlichen medizinischen Daten umzugehen und individuelle präzise Vorhersagen für kritische Ereignisse zu machen.
Die Publikation
Nils Schweingruber et al., A recurrent machine learning model predicts intracranial hypertension in neurointensive care patients, Brain, 2022. DOI: https://doi.org/10.1093/brain/awab453
Forschen & Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen & Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekt genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.