Digital HumanitiesIda und Richard Dehmel – Influencer der ModerneSerie „Forschen & Verstehen“
18. August 2022, von Viola Griehl
Foto: Louis Held/gemeinfrei
Das Künstlerehepaar Ida und Richard Dehmel korrespondierte zwischen 1890 und 1920 mit namhaften Kulturschaffenden wie Stefan Zweig, Rainer Maria Rilke, Else Lasker-Schüler oder Arnold Schönberg. Prof. Dr. Julia Nantke erforscht die 35.000 handschriftlichen Dokumente im Projekt „Dehmel digital“ und macht sie öffentlich zugänglich. In unserer Serie „Forschen & Verstehen“ stellen wir Forschungsprojekte der Universität Hamburg vor.
Ein Ehepaar schreibt Anfang des 20. Jahrhunderts Briefe. Weshalb ist das auch für Laien interessant?
Viele Kulturinteressierte, die sich für das aufregende Leben der Dehmels im Zentrum der modernen Künstlerinnen- und Künstlerschaft um 1900 begeistern, besuchen das Dehmelhaus, den Erinnerungsort in Hamburg Blankenese. Dort bekommen sie aktuell allerdings nur die ‚Hülle‘, das Haus mit seinen Möbeln, was zwar die Atmosphäre von damals erahnen lässt, aber letztlich leer steht. In den Briefen werden das personelle Netzwerk von damals, die Themen, die gemeinsamen Projekte und sogar die gemeinsam gefeierten Partys wieder lebendig. Deshalb planen wir, die von uns erschlossenen Briefe auch in den Ausstellungsbetrieb im Dehmelhaus zu integrieren. Jemand, der dort eine Grafik des Kunsthandwerkers Peter Behrens an der Wand sieht, kann sich dann beispielsweise. direkt Briefe von Behrens durchlesen, in denen er Entwürfe für seine Designs an die Dehmels schickt.
Inwieweit geht Ihr Projekt, das den Digital Humanities – also den digitalen Geisteswissenschaften – zuzuordnen ist, über das bloße Einscannen von Briefen hinaus?
Einscannen machen wir im Projekt tatsächlich so gut wie gar nicht. Wir bekommen die Briefe bereits digital von unserer Projektpartnerin, der Staats- und Universitätsbibliothek. Wir machen diese Digitalisate dann mit computergestützten Verfahren für die Allgemeinheit lesbar und erschließen die in ihnen genannten Personen, Orte, Werke und Organisationen.
Dabei nutzen wir verschiedene Verfahren des maschinellen Lernens, weil das schneller und effizienter ist. Die Ergebnisse speisen wir in die Forschungsdatenrepositorium der Uni ein. Gleichzeitig präsentieren wir die von uns erschlossenen Teile auf dem Portal dehmel-digital.de, das bereits in einer Beta-Version online ist und von uns stetig mit neuen Materialien erweitert wird.
Wo liegt die besondere Herausforderung bei diesem Projekt?
Ganz klar in der schieren Menge des Materials und damit der Notwendigkeit, neue Verfahren zur Erschließung zu entwickeln: 35.000 Briefe lassen sich nicht mehr mit den klassischen geisteswissenschaftlichen Erschließungs- und Editionsverfahren bearbeiten, die auf der sorgfältigen Lektüre und händischen Bearbeitung jedes Briefes basieren.
Deshalb gehen wir hier mit unserem Machine-Learning-Ansatz neue Wege, die wiederum neue Herausforderungen mit sich bringen. Wir wenden hier ja statistische, computergestützte Verfahren an, um die handschriftlichen Brieftexte zu transkribieren (Handwritten Text Recognition, HTR) und die relevanten Entitäten wie Personen und Orte zu ermitteln (Named Entity Recognition, NER). Für die Ergebnisse besteht also immer eine gewisse Fehlerquote. Wir korrigieren hier zwar nach, aber es bleibt ein Balanceakt zwischen Erschließungsmenge und -genauigkeit.
Ohne die statistischen Verfahren bräuchten wir die Erschließung einer so großen Menge an Materialien gar nicht anzugehen
Wie muss man sich diese statistischen Verfahren bei der Erfassung von handgeschriebenen Texten vorstellen?
Wir arbeiten mit Verfahren des überwachten maschinellen Lernens. Dabei lernen die Algorithmen die Handschriften und auch das Erkennen von Personen, Orten, Werken etc. anhand von Trainingsdaten, die wir vorgeben. Wir haben dafür einzelne handschriftliche Briefe selbst korrekt digitalisiert. An diesen Beispielen kann das künstliche neuronale Netzwerk die ‚Regeln‘ für die Übersetzung der Handschrift in ein Transkript lernen.
Es geht zum Beispiel darum, welche verschiedenen Formen ein Buchstabe haben kann und wie er an verschiedene vorangehende und nachfolgende Buchstaben angebunden ist, wobei wir jeweils prüfen, dass die vorgegebenen Trainingsdaten nicht einfach nur auswendig gelernt, sondern tatsächlich die Regeln ‚verstanden‘ werden.
Welchen Vorteil bieten Digital Humanities bei der Erforschung so komplexer Textsammlungen?
Wie man an unserem Projekt gut sieht: Ohne die statistischen Verfahren bräuchten wir die Erschließung einer so großen Menge an Materialien eigentlich gar nicht anzugehen. Digital-Humanities-Verfahren ermöglichen es, anstelle kleiner Teilkorpora den ganzen Bestand eines Archivs in den Blick zu nehmen und damit auch das dahinterstehende Netzwerk der Akteurinnen und Akteure sowie der Organisationen für die Nachwelt sichtbar zu machen.
Und auch in der Präsentation ist das digitale Format von großem Vorteil, denn 35.000 Briefe ließen sich kaum in gedruckten Bänden publizieren. Auf unserem Online-Portal können wir die Materialien strukturiert bereitstellen und die Nutzerinnen und Nutzer haben die Möglichkeit, über grafische Visualisierungen, verlinkte Register und strukturierte Suchen in das Material einzusteigen und sich bei Bedarf einzelne Briefe, größere Ausschnitte des Korpus oder den Gesamtbestand als XML-Dateien herunterzuladen, um damit weiterzuarbeiten
Konnten Sie über Richard und Ida Dehmel schon etwas erfahren, das die Forschung bisher noch nicht entdeckt hat?
Besonders spannend ist es, anhand der Korrespondenzen zu beobachten, wie literarisches und künstlerisches Arbeiten sowie das Agieren im Kulturbetrieb kollaborativ im stetigen Dialog zwischen Kolleginnen und Kollegen damals funktioniert hat: Gedichtentwürfe und Skizzen für Kunsthandwerk werden hin und her geschickt, kommentiert und teilweise von den Korrespondenzpartnerinnen und -partnern weitergedacht. Richard Dehmels Einsatz für eine gerechte Bezahlung von Dichtern, die er gemeinsam mit weiteren Lyrikern wie Arno Holz und Detlev von Liliencron durch die Gründung des ‚Kartells lyrischer Autoren‘ durchsetzen wollte, lässt sich anhand der Briefe ebenso nachvollziehen wie Ida Dehmels Bündnis mit Rosa Schapire im Frauenbund zur Förderung deutscher bildender Kunst.
Das Projekt
Richard Dehmel galt in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker. Mit seiner Frau Ida, einer Frauenrechtlerin und Kunstförderin, etablierte er in Hamburg-Blankenese das Zentrum eines internationalen Netzwerkes von Kunstschaffenden. Mit dem Projekt „Dehmel digital“ soll die umfangreiche Korrespondenz von Ida und Richard Dehmel im Rahmen einer digitalen Plattform wissenschaftlich erschlossen, zugänglich gemacht und erforscht werden. In Kooperation mit der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek werden ca. 35.000 handschriftliche Originalbriefe an das Ehepaar Dehmel sowie die archivierten Antworten der Dehmels mittels digitaler Werkzeuge teilautomatisiert transkribiert. Das Projekt hat eine Anschubförderung durch die Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg erhalten und wird seit 2020 durch die Hermann Reemtsma Stiftung gefördert.
Forschen & Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen & Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekte genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.