Forschungsergebnisse aus dem Reallabor LokstedtSo lebt es sich in Hamburg ohne Auto
14. Juli 2022, von Newsroom-Redaktion
Foto: UHH/Esfandiari
Leben ohne eigenes Auto? Das probierten zuletzt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Reallabor-Experiments „Klimafreundliches Lokstedt“. Für drei Monate waren zwölf Haushalte ohne eigenes Auto unterwegs und konnten alternative Verkehrsmittel kostenfrei nutzen. Der Versuch wurde von Prof. Dr. Katharina Manderscheid und ihrem Team, insbesondere ihrem wissenschaftlichen Mitarbeiter Fabian Zimmer, begleitet. Nun gibt es Ergebnisse.
Mit dem Fahrrad, dem ÖPNV, einem Car-Sharing-Auto oder dem E-Scooter in Hamburg und Umland unterwegs? Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren die Erfahrungen ohne PKW positiv. Wie Zimmer erläutert, wurde beispielsweise das HVV-Netz neu erkundet und mit Überraschung festgestellt, wie weit Busse und Bahnen in Hamburg eigentlich fahren. Auch das (E-)Fahrrad wurde als gute Alternative wahrgenommen. Insgesamt konnten durch das Ausprobieren neuer Verkehrsmittel Vorbehalte und Sorgen entkräftet werden, wie zum Beispiel das Radfahren bei schlechtem Wetter, das offenbar weit weniger oft den Arbeitsweg betrifft.
Doch der Alltag ohne Auto brachte auch neue Herausforderungen mit sich. Alternative Verkehrsmittel wie das StadtRAD, Car-Sharing-Angebote und E-Scooter standen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zwar zur Verfügung, aber gerade Familien mit kleineren Kindern, die vorher viel mit dem Auto unterwegs waren, sahen sich ohne Auto mit spezifischen Herausforderungen konfrontiert. Ein Grund dafür sind laut Projektleiterin und Soziologin Prof. Dr. Manderscheid fehlende Gegenstände wie der zweite Kindersitz im Car-Sharing Auto oder die fehlende Anhängerkupplung des Leih-E-Bikes: „Um Menschen dazu zu bewegen, ohne eigenes Auto mobil zu sein, müssen die Schnittstellen zu anderen Verkehrsmitteln teils weiter verbessert und ausgebaut werden. Denn es ist wichtig zu beachten, dass das Auto nicht nur zur Überbrückung von Strecken genutzt wird. Es ist Teil der Alltagsorganisation – hier werden Dinge, die man im Tagesverlauf braucht, zwischengelagert, oder man verbringt als Familie gemeinsame Zeit im Auto, beispielsweise bei Ausflügen oder auf dem Weg in den Urlaub.“ In Familien entscheidet man nicht allein über den Alltag, und die Verkehrsmittel, sondern gemeinsam. Die große Bedeutung des Autos im Familienalltag brachte die Forschenden dazu, hier von „Familienzeug“ anstelle eines „Fahrzeugs“ zu sprechen. Es einfach mit anderen Verkehrsmittel zu ersetzen, ohne auch den Alltag zu ändern, ist nur sehr schwer möglich.
Bei Wegen einzelner Personen spielt aber auch das Sicherheitsgefühl eine Rolle. Besonders abends legten einige der Teilnehmenden großen Wert darauf, dass beispielsweise E-Scooter oder Stadträder an den Haltestellen verlässlich zur Verfügung standen, um den letzten Weg nach Hause auf menschenleeren Straßen schnell zurücklegen zu können.
Wie kann man Menschen dazu bringen, das eigene Auto stehen zu lassen oder abzuschaffen?
Das Projekt ist Teil des größeren Verbundprojekts „Klimafreundliches Lokstedt“ in dem untersucht wird, wie der Stadtteil Lokstedt klimafreundlich werden kann. Im Bereich Mobilität und Verkehr ist für Prof. Dr. Manderscheid und ihr Team die Frage zentral, was Menschen dazu bewegen kann, das eigene Auto stehen zu lassen oder ganz abzuschaffen.
Eine grundlegende Erkenntnis war, dass das Sammeln praktischer Erfahrungen im Bereich Mobilität entscheidend ist. Das theoretische Wissen über mögliche Alternativen alleine reicht nicht aus. Um Menschen dazu zu bringen das Auto stehen zu lassen, bedarf es für die Soziologin niedrigschwellige Angebote: „Das macht am Ende die Nutzung für Menschen im Alltag erst möglich. Wenn ich morgen zu meiner Ärztin möchte, dann überlege ich mir ja nicht, den Roller oder den E-Scooter zu nehmen, wenn ich es vorher noch nie gemacht habe. Ich muss vorher alles installiert haben, ich muss praktisch ausprobiert haben, wie ich an den Schlüssel komme und wo der Helm ist. Nur so wird das Verkehrsmittel eins, das ich spontan im Alltag nutzen kann.“
Nach Abschluss der Versuchszeit hat kein Haushalt sofort das eigene Auto verkauft. Teilweise wird es aber für Wege, beispielsweise in die Innenstadt, nicht mehr verwendet, da sich hier der ÖPNV als mindestens gleich schnell herausgestellt hat und die Parkplatzsuche überflüssig macht. Andere Teilnehmende werden aber den HVV nicht weiter nutzen, da dies, wenn das Auto schon vor der Tür steht, mit zusätzlichen Kosten für die Fahrkarten einhergeht. Obwohl prinzipiell das eigene Auto also höhere Kosten pro Strecke verursacht, machen die „versunkenen Kosten“, also die Kosten, die nicht direkt sichtbar sind, beim Auto vor der Tür diese Kalkulation wieder rational.
Die grundlegende Empfehlung des Projektteams an die Politik ist neben dem Ausbau und der Verbesserung der bestehenden Angebote auch Umbruchsmomente im Leben der Menschen im Blick zu haben. Gemeint sind Situationen, in denen eine Veränderung im Alltag stattfindet. So ist es für Prof. Dr. Manderscheid eher unrealistisch, dass Vielfahrerinnen und Vielfahrer Gewohnheiten wie das Auto zu nehmen, ändern oder den PKW gar verkaufen, wenn es dafür keinen konkreten Anlass gibt.
Wahrscheinlicher ist eine Veränderung hingegen dann, wenn das Auto beispielsweise nicht mehr durch den TÜV kommt oder aus anderen Gründen in ein neues investiert werden müsste. Auch Wohnungsumzüge, neue Arbeitsplätze oder Veränderungen in der Haushaltszusammensetzung sind Umbruchsmomente. In diesen Situationen werden Alltagsorganisationen neu ausgehandelt und auch die Nutzung von Verkehrsmitteln für die Wege im Alltag werden neu überdacht. In solchen Momenten sei es wichtig, dass autofreie Alternativen ausreichend vorhanden, bekannt und ausgestattet sind: „Es bedarf Veränderungen der Normalität insgesamt. Dazu gehören Veränderungen der Alltagsorganisation, der Verkehrswege und Nahversorgung im Wohnquartier. Außerdem sind nicht-automobile Vorbilder und das frühe Erlernen, sich ohne Auto in der Stadt zu bewegen wichtig, um die Selbstverständlichkeit der Autonutzung aufzubrechen. Appelle an das Umweltbewusstsein reichen nicht aus.“, so Manderscheid.