Schwedischer Schlüssel zur Mythologie„Die Leute sollen das Gefühl haben: Das verändert meinen Blick auf die Welt!“Serie „Forschen & Verstehen“
13. Juli 2022, von Viola Griehl
Foto: UHH/Schirg
Welche Geschichten Menschen Landschaften zuschreiben, das erforschen Dr. Bernhard Schirg und sein Team vom Arbeitsbereich Public History. Grundlage ist die vierbändige „Atlantica“ des schwedischen Gelehrten Olof Rudbeck (1630–1702), der nicht nur Atlantis, sondern auch die gesamte klassische Mythologie auf Schweden zurückführte. In unserer Serie „Forschen & Verstehen“ stellen wir Forschungsprojekte der Universität Hamburg vor.
Schweden als Heimat von Atlantis und als Ursprung der zivilisierten Welt – das klingt erst einmal etwas schräg. Was ist das für ein Werk, das Sie untersuchen?
Dieses Gigantowerk von Rudbeck – er war ein schwedischer Anatom, Botaniker und Universalgelehrter – war im 17. Jahrhundert eine mediale Sensation, weil es Tausende von Seiten auf Latein und Schwedisch zusammenbrachte mit 500 Holzschnitten und Illustrationen von Antiquitäten, Runensteinen und vielem mehr. So ein bombastisch illustriertes Werk hatte es in Schweden gut 150 Jahre nach Erfindung des Buchdrucks noch nicht gegeben. Rudbeck hatte dabei selten physischen Zugriff auf all die abgebildeten Objekte, weil sie in Sammlungen in Holland, in Italien oder sonstwo waren. Mit Bildern kreierte und präsentierte er daher eine Art barocke Wunderkammer in Papierform, um seine Argumentation zu beweisen.
Das alleine wäre schon ein interessanter Forschungsgegenstand, da viele von diesen Objekten von Rudbeck damals ganz anders interpretiert wurden als von uns heute – und dadurch eine andere Bedeutung hatten. Hinzu kommt, dass er hat nicht nur mit Abbildungen aus Sammlungen gearbeitet hat, sondern damals auch eine Expedition in den Norden von Schweden geschickt hat, um Bergpanoramen und Geodaten mitzubringen von Orten, die aus seiner Sicht schon von Platon und anderen antiken Autoren beschrieben wurden. Und auch dieses Material liegt uns heute noch vor.
Inwieweit ist dieses Material so wichtig?
Es hat die ursprüngliche Projektskizze insofern verändert, dass es jetzt nicht nur um die abgebildeten Gegenstände wie Antiquitäten und ähnliches geht, sondern vor allem auch um die Natur selbst. Rudbeck arbeitet damit – mit den Namen von Bergen, Wäldern oder Wasserfällen, mit deren Formen, mit den Mythen dahinter. Und sie ist für ihn entscheidend, weil die Natur aus seiner Sicht unveränderlich ist. Damit steht sie im Kontrast zu Mythen, die sich über die Überlieferung hinweg wandeln können.
Die Idee ist reizvoll, heute nach Schweden gehen zu können und dort tatsächlich dieselben Schlüssel zur Mythologie wie vor tausenden Jahren sinnlich erfahren zu können. Für Rudbeck war das der schlagende Beweis für seine Theorie, dass nur hier all die Sagen und Mythen stattgefunden haben können. Und da setzen wir heute im Zeitalter des Anthropozän an. Wir gehen wieder raus in diese Landschaften und stellen fest: Ja, sie sind zwar noch da, aber irgendwie auch nicht – weil wir sie unwiderruflich verändert haben.
Es geht also über die Betrachtung von Texten und Objekten hinaus?
Genau, wir arbeiten nicht nur an historischen Objekten, sondern wollen zum Beispiel Geschichten hinter Landschaften recherchieren und erzählen. Ich bin hier gerade in Schweden in einer Gebirgsregion, die von Rudbeck im 17. Jahrhundert präsentiert wurde als die Berge, die Mythen wie der von Ovid beschriebenen Versteinerung des Gottes Atlas oder dem Thron der neun Musen zugrunde liegen müssen – weil die Berge eine gewisse Form haben, weil gewisse Naturvoraussetzungen bestehen, weil sie gewisse Namen tragen. So wird der Helags-Gletscher mit dem Helikon in Verbindung gebracht, wo die besagten Musen in der klassischen Mythologie ihren Ursprung haben.
Wir untersuchen und machen für ein breiteres Publikum zugänglich, wie Rudbeck und seine Mitstreiter mit diesen Landschaften vor Augen ihre Theorie entwickelt haben. Gleichzeitig ist aber auch Teil der Geschichte, wie sich bzw. wie wir diese Landschaften verändert haben – durch Klimawandel, durch Staudämme, durch Kahlschlag in der schwedischen Forstwirtschaft – und dass der Mythos dort eigentlich nicht mehr haftet.
Inwieweit verändert das den Fokus?
Man ist da sehr schnell in dem Bereich, den wir „Environmental Humanities“ nennen. Da geht es nicht mehr um Geschichte im 17. Jahrhundert oder um Mythologie, sondern eigentlich darum: Wie gehen wir mit Landschaften um, wie stehen wir über Geschichten mit den Landschaften in Verbindung und wie zertrennt ist dieses Band mittlerweile eigentlich? Für die Veränderungen, die wir hervorgerufen haben und in denen wir künftig leben werden, haben wir nämlich momentan noch überhaupt keine globale Erzählung.
Für die Landschaften von damals gibt es diese Erzählungen aber. Was können wir aus der Beschäftigung damit lernen?
Die Frage ist immer: Was ist das Substrat dieser Erzählungen? Hinter dem Mythos vom Vogel Phönix liegt für Rudbeck zum Beispiel das Phänomen, dass die Sonne im Winter über dem Polarkreis hinter dem Horizont verschwindet und dann zum Frühling hin wiederauftaucht. Andere Mythen wiederum beruhen für ihn auf der Mitternachtssonne, die um Mittsommer nicht untergeht.
Für ihn kann ein Grieche darauf beruhende Mythen gar nicht originär beschrieben und verstanden haben, weil die Griechen diese Naturphänomene nicht kennen. Die Griechen haben in seiner Darstellung all die Mythologien nur injiziert bekommen durch die ersten Expeditionen aus Schweden in den Mittelmeerraum. Und so hat sich laut Rudbeck die mythische Tradition entkoppelt von der Natur, mit der sie eigentlich mal in Kontakt stand.
Wir finden, das ist an diesem Werk der spannendste Punkt, denn auch wir im 21. Jahrhundert schauen auf die Welt um uns herum ohne konkreten Bezug mehr zu einem Wald, zu einem Baum, einem Berg – für die meisten von uns erzählen sie keine Geschichten mehr. Wir fühlen uns beziehungsloser zu der Welt um unser herum und in der Folge behandeln wir sie als etwas Externes, Materielles.
Inwiefern kann dieses Projekt den Bezug zur Natur um uns herum und die Geschichten dazu wiederbeleben?
Das Werk von Rudbeck ist unser Ausgangspunkt, um die Verbindung von Landschaften und Geschichten sowohl historisch als auch für unsere Gegenwart zu verstehen. Und damit hat man ganz viele Ansätze für konkrete Projekte.
Das war zuletzt wegen der Pandemie natürlich schwer. Vieles, was wir an Events geplant hatten, musste abgesagt werden. Ein anderer Ansatz ist für uns aber unter anderem ein Kinderbuch, das Geschichte anders erzählt. Zum Beispiel gibt es den ältesten Baum der Welt – einen Baum, der aus einem uralten Wurzelsystem wieder ausgeschlagen hat, was auch mit dem Klimawandel zusammenhängt. Dieser Baum hat gesehen, wie sich die letzte Eiszeit zurückgezogen hat, wie die Bäume danach kamen und die ersten Menschen, der hat die Expedition gesehen, die Rudbeck 1675 losgeschickt hat, und die ersten Holzfäller. Es wäre doch cool, wenn wir diesen Baum, der 9.500 Jahre alt ist, zum Protagonisten einer Kindergeschichte machen.
Wir setzen allgemein im Projekt ganz stark auf multimediale Formate und auf diversifizierte Zugangsformen für verschiedene Altersgruppen und soziale Hintergründe. Wir wollen im Prinzip alles machen – bis auf das klassische Buch für den klassischen Akademiker oder die klassische Akademikerin. Die Leute sollen das Gefühl haben: Dazu will ich mehr wissen, das verändert meinen Blick auf die Welt.
Zur Person
Dr. Bernhard Schirg ist Freigeist-Fellow der VolkswagenStiftung und seit dem 1. Juni 2021 an der Universität Hamburg im Team „Public History“ tätig. Zuvor forschte er u. a. in Oxford, Berlin und Erfurt. In seinem Projekt „Reaching for Atlantis“ untersucht er die Geschichte von Objekten aus der Zeit des schwedischen Großreichs (1650–1720). Die historischen Quellen werden auf einer digitalen Plattform zugänglich gemacht und sollen zeigen, wie die archäologischen und naturkundlichen Objekte zu unterschiedlichen Zeiten kontextualisiert und interpretiert worden sind. Ausgehend von der schwedischen Wissenschafts- und Sammlungsgeschichte soll so ein Beispiel dafür entstehen, wie der Mensch bis heute die Bedeutung der Dinge formt und umgestaltet.
Forschen & Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen & Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekte genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.