Neu-Übersetzung eines Standardwerks von 1631Wann sind Kriege zwischen Staaten gerechtfertigt?Serie „Forschen & Verstehen“
10. Mai 2022, von Anna Priebe
Foto: gemeinfrei
Im 17. Jahrhundert verfasst und weiterhin aktuell: Das juristische Standardwerk von Hugo Grotius von 1631 wird an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg neu übersetzt. Prof. Dr. Tilman Repgen, Projektleiter und Dekan der Fakultät, über die Besonderheit der Abhandlung für das Völkerrecht.
In Ihrem Forschungsprojekt geht es um das Werk „De jure belli ac pacis libri tres“ (Drei Bücher über das Recht des Kriegs und des Friedens), das im 17. Jahrhundert erschienen ist. Was macht es so besonders?
Im 16. Jahrhundert endete die konfessionelle Einheit in Europa und in der Folge eskalierten viele Konflikte, unter anderem begann 1618 der Dreißigjährige Krieg. In dem Werk von Hugo Grotius geht es im Kern um die Frage, ob und unter welchen Umständen die Kriegsführung berechtigt ist und wie ein berechtigter Krieg geführt werden darf. Grotius war nicht der erste, der sich zu diesem Thema geäußert hat, aber er hat es auf besonders wirkungsvolle Art und Weise getan. Sein Hauptwerk war ein wichtiges Bindeglied zwischen der mittelalterlichen Tradition und dem mit Grotius beginnenden neuen Zeitalter eines Naturrechts, das sich allein auf die Vernunft gründen wollte.
Der Einfluss von Grotius ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass sich danach alle Staaten an seine rechtlichen Vorstellungen gehalten hätten. Aber in der wissenschaftlichen Diskussion wurde das Werk bald nach seinem Erscheinen als Leittext zu diesen Problemen verwendet. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts war es an praktisch allen Universitäten in den protestantischen Ländern Europas für die Jurastudenten ein Standardlehrwerk. In den folgenden Jahrzehnten ist es von sehr vielen namenhaften Rechtsgelehrten des 17. und 18. Jahrhunderts selbst zum Gegenstand von Kommentaren gemacht worden.
Was zeichnet Grotius Überlegungen aus?
Er entwickelt in seinen Überlegungen eine Gesamtrechtsordnung. Wenn man Grotius fragt, wann ein Krieg gerechtfertigt sei, dann ist seine Antwort: Das hängt davon ab, ob zwischen den Staaten ein Fall von Selbsthilfe gerechtfertigt wäre. Das ist der Fall, wenn die Rechte des einen vom anderen verletzt worden sind.
Grotius fasst die Staaten damit gleichsam wie private Rechtssubjekte auf. Wenn ein Bürger einem anderen einen Schaden zufügt, dann gibt es ein Rechtsverhältnis, das vor einem Gericht zum Beispiel zu Schadensersatz führen kann. Unter sehr engen Voraussetzungen gibt es Wege der Selbsthilfe, etwa, wenn gerichtliche Hilfe nicht rechtzeitig erlangt werden kann. Für die Beziehung zwischen Staaten stellt Grotius aber fest: „ubi iudicia deficiunt, incipit bellum“ – wo die gerichtlichen Entscheidungen fehlen, da beginnt der Krieg.
Es ist also für Grotius wichtig, ausführlich über die Frage nachzudenken, wann denn das Recht eines Staates eigentlich verletzt ist und was der Inhalt dieses Rechts ist. Er hat gewissermaßen eine gesamte Rechtsordnung dazu entwickelt, die zwar das Recht des Krieges und des Friedens als Aufhänger hat, aber auch viele andere Rechtsfragen behandelt. Und da ist Grotius in vielen Punkten sehr innovativ gewesen. Daher hatte es auch einen so durchschlagenden Erfolg in der Wissenschaft.
Wo die gerichtlichen Entscheidungen fehlen, da beginnt der Krieg.
Was macht eine Neuübersetzung erforderlich?
Es gibt Übersetzungen in zwölf Sprachen, wobei sich die Qualität stark unterscheidet. Wir möchten nun eine neue deutsche Fassung auflegen. Ein wichtiger Grund ist die unklare Textgrundlage für die momentan hauptsächlich verwendete Übersetzung von Walter Schätzel aus dem Jahr 1950 – die darüber hinaus auch sehr viele sinnentstellende Fehler enthält. Der Herausgeber sagt in seinem Vorwort, dass er die Erstausgabe von 1625 zugrunde gelegt hat, doch es wurde schon kurz nach Erscheinen nachgewiesen, dass Schätzel einem Irrtum unterlag und er eine spätere Ausgabe des Buches verwendet hat. Grotius hat insgesamt fünf bearbeitete und erweiterte Neuauflagen herausgegeben, und heute ist es Konsens in der Forschung, dass die Ausgabe von 1631 als der beste und vollständigste Text anzusehen ist. Wir werden sie daher auch als Grundlage für unsere Übersetzung nehmen, wobei die anderen Fassungen von Grotius‘ Hand in einem Anmerkungsapparat berücksichtigt werden.
Zudem ist die Veröffentlichung von 1950 eine einsprachige Veröffentlichung, das heißt, dort findet man nur den übersetzen Text. Wer dieses Buch liest, hat gar nicht die Chance zu prüfen, ob die Übersetzung auch stimmt. Das ist für die wissenschaftliche Bearbeitung ein Nachteil; daher werden wir eine lateinisch-deutsche Fassung publizieren.
Braucht man ein solches Werk denn heute noch, wo es zum Beispiel Institutionen wie den Internationalen Gerichtshof in Den Haag und den Weg der Verhandlung gibt?
Auch früher gab es die Gelegenheit, über Streitfragen zu verhandeln, und die wurde durchaus wahrgenommen. Bleibt noch die Frage nach dem Gericht als Institution – und da müssen wir sagen, dass wir heute nicht sehr viel weiter sind als früher. Insofern sind die Grundfragen von Grotius auch heute noch aktuell.
Natürlich gibt es auf der Ebene der Europäischen Union und der Vereinten Nationen Versuche, Kriege zumindest mehr einzuengen. Kriegsgründe sind heute nicht mehr so vielfältig wie noch zu Grotius‘ Zeiten. Aber das eigentliche Kernproblem ist noch nicht gelöst: Es gibt keine weltumspannende Gerichtsbarkeit, die von allen anerkannt wäre, und auch keinen Weltpolizisten, der die Gerichtsurteile dann durchsetzt. Wir würden uns ja wünschen, dass man Konflikte zwischen Staaten und Völkern vor dem Internationalen Gerichtshof lösen würde, aber tatsächlich sehen wir ja, dass überall auf der Welt genau das Gegenteil stattfindet.
Unser Buch geht über die Tagesaktualität hinaus und bezweckt nicht die Kommentierung aktueller politischer Ereignisse, sondern leistet Grundlagenforschung. Selbstverständlich wird es eine wissenschaftliche Einführung geben, sodass man den Kontext begreift und auch sieht, was Grotius mit dem Werk eigentlich leistet.
Übersetzungsprojekt „De jure belli ac pacis libri tres“
Hugo Grotius wurde 1583 in Delft geboren und erhielt mit 15 Jahren in Orléans den juristischen Doktortitel. Er war in diplomatischen Diensten und später Oberstaatsanwalt und sowie Syndikus in Rotterdam. 1618 wurde er aus konfessionellen Gründen verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteil. Ihm gelang die Flucht ins Exil nach Paris, wo er 1625 sein Hauptwerk „De jure belli ac pacis libri tres“ veröffentlichte. Im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes an der Professur für Deutsche Rechtsgeschichte, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit und Bürgerliches Recht entsteht eine vollständige Neuübersetzung auf der Grundlage der Ausgabe von 1631.
Forschen & Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen & Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekte genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.