Titel – Thesen – PromotionenWäre es besser, politische Ämter zu verlosen?
27. April 2022, von Christina Krätzig
Foto: privat
An der Universität Hamburg gibt es viele spannende Promotionsprojekte. Beispielsweise das der Philosophin Julia Jakobi, die untersucht, ob eine Lottokratie auch ein demokratisches Verfahren wäre – und damit vielleicht eine Alternative zur heutigen Form der Demokratie.
Frau Jakobi, woher kommt die Idee, Volksvertreterinnen und -vertreter auszulosen? Und ist diese Idee heute noch interessant?
Im antiken Griechenland war die Lottokratie Realität. Politische Ämter wurden verlost, allerdings nur unter Menschen mit Bürgerrechten. Somit waren Frauen, Ausländer und Sklaven von vorherein ausgeschlossen. Trotzdem war der Philosoph Aristoteles der Meinung, Ämter zu verlosen sei demokratischer als die Amtsinhaber zu wählen. Denn der Ausgang einer Wahl hängt von vielen Faktoren ab, nicht zuletzt vom politischen Einfluss und den finanziellen Ressourcen der Kandidierenden.
Diese Problematik können wir auch heute noch beobachten. Zwar schließen wir keine Bevölkerungsgruppen per se vom passiven Wahlrecht aus. Trotzdem sehen wir in der Praxis, dass im Bundestag fast nur Akademikerinnen und Akademiker sitzen, mehr Männer als Frauen und 89 Prozent der Abgeordneten sind deutschstämmig. Die Geschicke unseres Landes werden also von einer ziemlich homogenen Gruppe gelenkt. Das ist nicht wirklich demokratisch.
Könnte ein lottokratisches System dies wirklich ändern?
Wäre die Gruppe der Ausgelosten groß genug, wäre ihre Zusammensetzung mit Sicherheit repräsentativer für die Gesamtbevölkerung als die Zusammensetzung des heutigen Bundestags.
Welche Vorteile hätte das Losverfahren noch?
Befürworterinnen und Befürworter des Systems hoffen, dass Korruption und Lobbyismus unterbunden würden. Es wäre dann ja nicht mehr möglich, Kandidatinnen und Kandidaten langfristig aufzubauen und bestimmte Ämter gezielt mit ihnen zu besetzen. Kritiker vermuten aber, dass es ganz so einfach nicht ist. Nicht umsonst heißt es: Geld findet immer seinen Weg. Natürlich könnten auch ausgeloste Volksvertreterinnen und -vertreter bestechlich sein.
Entstehen darüber hinaus Nachteile?
Man müsste genau überlegen, unter welchen Umständen ein Amt abgelehnt werden kann. Denn wenn der oder die Ausgeloste verpflichtet wäre, das Amt anzunehmen, würde das quasi an Freiheitsberaubung grenzen: Das widerspräche unserem Grundrecht auf freie Berufswahl. Wäre das Amt hingegen nicht verpflichtend, würden Spitzenverdienerinnen und -verdiener vermutlich ablehnen, und das würde bedeuten, diese Gruppe wäre nicht ausreichend repräsentiert.
Zudem stellt sich die Frage, wie weit Fachwissen unverzichtbar ist. Die Ausgelosten bräuchten Unterstützung von einem relativ großen Stab kontinuierlich beschäftigter Beraterinnen und Berater. Diese Beraterinnen und Beratern hätten viel Einfluss, ohne demokratisch gewählt zu sein.
Gibt es heute Beispiele für lottokratische Verfahren?
Das bekannteste Beispiel sind die Geschworenenprozesse in den USA. An ihnen kann man sehen, dass es funktioniert: Nach einer intensiven Auseinandersetzung mit den Themen, über die entschieden werden soll, fällen zufällig ausgewählte Geschworenen Urteile, die auch vor den Augen ausgebildeter Juristinnen und Juristen Bestand haben.
Im politischen Kontext werden jedoch meist nicht die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger selbst ausgelost, sondern Beratungsgruppen. Das gibt es in Belgien auf lokalpolitischer Ebene, und Kanada und Irland haben sogar über Verfassungsänderungen mit Hilfe solcher Beratungsgruppen entschieden. In Irland ging es unter anderem um die Frage, ob homosexuelle Eheschließungen erlaubt werden sollen. Bemerkenswert war, dass die Mehrheit der Ausgelosten anfangs dagegen war, sich nach einem intensiven Austausch mit den betroffenen Menschen aber schließlich dafür aussprach. Eine Lottokratie ist also nicht einfach mit einer Volksabstimmung gleichzusetzen. Die Auseinandersetzung mit einem Thema gehört zwingend dazu.
Sie sehen also offensichtlich auch funktionierende Zwischenformen?
Absolut. Es heißt nicht, entweder wählen oder losen. Man kann mit Mischformen experimentieren, um herauszufinden, ob unsere heutige Form der Demokratie verbesserungsfähig ist.