Analyse weltweit einmaliger DatenEine neue Perspektive auf Mehrsprachigkeit in Wort und SchriftSerie „Forschen & Verstehen“
10. März 2022, von Anna Priebe
Foto: pixabay/Mitrey
Lesen auf Türkisch, Schreiben auf Deutsch und Twittern auf Englisch: Viele Kinder mit Migrationshintergrund sind multiliteralisiert, können also in mehreren Sprachen lesen und schreiben. Dr. Irina Usanova und Dr. Birger Schnoor von der Fakultät für Erziehungswissenschaft untersuchen die Einflüsse der Sprachen aufeinander und deren Nutzbarkeit auf dem Arbeitsmarkt. In unserer Serie „Forschen & Verstehen“ stellen wir Forschungsprojekte der Universität Hamburg vor.
In Ihrem Projekt geht es um Multiliteralität. Was versteht man darunter?
Irina Usanova: Multiliteralität ist die Fähigkeit, in mehreren Sprachen lesen und schreiben zu können – und das sowohl in analoger Form als auch mit digitalen Endgeräten.
Alle Kinder in Deutschland werden im Verlauf der Schulzeit mehrsprachig: Sie lernen nicht nur Deutsch, sondern im Kindergarten oder in der Schule mindestens eine Fremdsprache, meist Englisch. Etwa die Hälfte der Kinder lernt noch eine zweite Fremdsprache. In Familien mit Migrationshintergrund gibt es zudem noch die Herkunftssprache. Wie gut sie gelesen und geschrieben werden kann, variiert meist von Sprache zu Sprache. Uns interessiert besonders, ob und wie diese Fähigkeiten als Ressource auf dem Arbeitsmarkt eingesetzt werden können.
Wie untersuchen Sie diese Fähigkeiten im Rahmen des Projekts MARE?
Usanova: Wir bauen auf einer Vielzahl guter theoretischer Ansätze und Modelle auf, die sich damit beschäftigen, wie die Sprachen bei mehrsprachigen Sprecherinnen und Sprechern untereinander zusammenhängen. Aber wir können für MARE zudem einen der weltweit umfangreichsten Datensätze zu mehrsprachigen Lese- und Schreibfähigkeiten von Sekundarschülerinnen und -schülern in Deutschland nutzen, um diese Theorien empirisch, also durch statistische Modelle, zu überprüfen.
Birger Schnoor: Die Daten stammen aus den Studien „Mehrsprachigkeitsentwicklung im Zeitverlauf“ (MEZ) und „Mehrsprachigkeit an der Schwelle zum Beruf“ (MEZ-2), die an der Uni Hamburg unter Leitung von Prof. Dr. Ingrid Gogolin durchgeführt wurden. Sie umfassen Sprachproben von rund 2000 Sekundarschülerinnen und -schülern aus Deutschland mit deutschem, deutsch-türkischem, deutsch-russischem Sprachhintergrund. Gemessen wurden Fähigkeiten im Lesen und Schreiben in der Unterrichtssprache Deutsch, den Herkunftssprachen Türkisch und Russisch sowie den Schulfremdsprachen Englisch und – sofern vorhanden – Französisch und Russisch. Die Schülerinnen und Schüler wurden zwischen 2014 und 2020 in sechs Wellen befragt, also vom Beginn der Sekundarstufe bis zum Übergang von der Schule in das Studium oder den Beruf begleitet.
Was macht die Daten so besonders?
Schnoor: Der MEZ-Datensatz verfügt über ein einzigartiges Spektrum sprachlicher Testdaten wie zum Beispiel Leseverständnis und Schreibfähigkeit in den angesprochenen Sprachen. Die meisten Studien zum Themenbereich verfügen nur über Informationen darüber, wie Sprecherinnen und Sprecher ihre sprachlichen Fähigkeiten selbst einschätzen. Auch die großen internationalen Bildungsstudien, die sich Schülerleistungen anschauen – etwa PISA – verfügen nicht über diese Bandbreite an Sprachdaten, da sie einen anderen Fokus haben.
Gibt es schon erste Ergebnisse Ihrer Analyse?
Usanova: Wir sehen, dass die Sprachen im Repertoire der Sprecherinnen und Sprecher positiv miteinander in Verbindung stehen. Schülerinnen und Schüler, die bessere Leistungen im Lesen und Schreiben in einer Sprache erbringen, tun dies auch in allen anderen Sprachen ihres Repertoires. Zudem sehen wir, dass sich die Sprachen über die Zeit gegenseitig stärken – sie fungieren also füreinander als Ressourcen beim Ausbau von Multiliteralität.
Es gibt einen inneren Kern der Literalität, auf den ich sofort zugreifen kann.
Woran könnte das liegen?
Schnoor: Wenn ich in einer Sprache lesen und schreiben kann, dann habe ich ein Grundverständnis davon, was Schrift ist, was Buchstaben sind, wie Texte gebaut sind. Das ist Wissen, das nur teilweise an eine spezifische Sprache gebunden ist; die Prinzipien sind sprachübergreifend. Wenn ich eine neue Sprache lerne, fange ich also nicht bei null an. Sprachspezifische Aspekte wie Wortschatz muss ich pro Sprache erlernen, aber es gibt einen inneren Kern der Literalität, auf den ich sofort zugreifen kann.
Usanova: Bisher wurde dieses strategische Wissen eher theoretisch angenommen. Wir konnten es nun mit empirischen Daten modellieren. Unsere Forschung stärkt damit eine ressourcenorientierte Perspektive auf Mehrsprachigkeit: Mehrsprachigkeit ist kein Defizit oder Hindernis, sondern Grundlage und Quelle für sprachliches Lernen.
Welche Ansatzpunkte bietet Ihr Projekt für die Praxis?
Schnoor: Uns geht es speziell um Multiliteralität als Humankapital und um die Frage, inwiefern sie mit Bildungserfolg und dem Start in den Arbeitsmarkt zusammenhängt. Im Zuge der Internationalisierung und des Wandels von manueller zu schriftsprachbasierter Arbeit wächst die Nachfrage nach Arbeitnehmerinnen und -nehmern, die über diese multiliterale Fähigkeiten verfügen.
Usanova: Wir arbeiten auch mit der Arbeitsagentur Hamburg zusammen und entwickeln ein Testverfahren, mit dem die mehrsprachigen Fähigkeiten von Migrantinnen und Migranten, die neu in Deutschland ankommen, effektiv eingeschätzt werden können. Diese Personen haben oft keine Nachweise über ihre Sprachfähigkeiten, also Zeugnisse oder ähnliches. Wenn man sie hier aber messen kann, können Maßnahmen zu ihrer Arbeitsmarkteingliederung ergriffen werden, die an ihren jeweiligen Literalisierungsgrad angepasst sind.
Schnoor: Dies wird auch dazu beitragen, dass die Mehrsprachigkeit dieser Personen als Ressource für Arbeit erkannt wird, obwohl offizielle Zertifikate fehlen. Dieser Anwendungsbezug ist uns in MARE besonders wichtig, da er einen direkten Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis ermöglicht.
„Multiliteralität als Arbeitsmarkressource (MARE)"
Die Nachwuchsforschungsgruppe „Multiliteralität als Arbeitsmarktressource. Soziale Erwerbsbedingungen multiliteraler Kompetenzen und deren Transformierbarkeit in ökonomisches Kapital (MARE)“ um Dr. Irina Usanova (Gruppenleitung) und Dr. Birger Schnoor ist in der Arbeitsgruppe „Diversity in Education Research (DivER)“ an der Fakultät für Erziehungswissenschaft angesiedelt. Sie ist zudem Teil der Profilinitiative „Literacy in Diversity Settings (LiDS)“ sowie des gleichnamigen Forschungszentrums. Die Forschungsgruppe wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in der Förderlinie „Nachwuchsforschungsgruppen in der empirischen Bildungsforschung“ bis 2026 mit 1,5 Millionen Euro unterstützt.
Forschen & Verstehen
In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen & Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekte genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion(newsroom"AT"uni-hamburg.de) gesendet werden.