„Titel, Thesen, Promotionen“Wodurch entsteht Intimität?
17. Dezember 2021, von Christina Krätzig
Foto: istock/Javier Romera
Das Hochschulmagazin 19NEUNZEHN stellt in der Serie „Titel, Thesen, Promotionen“ spannende und ungewöhnliche Dissertationsprojekte vor. Dieses Mal geht es um Zwischenmenschliches beim Tanz.
Frau Christall, Sie haben Soziologie studiert und erforschen nun das Thema Intimität in Ihrem Dissertationsprojekt am Institut für Bewegungswissenschaften. Warum interessiert Sie das?
Gemeinhin denkt man beim diesem Thema an Paare und an Sexualität. Ich glaube aber, dass dieses Verständnis von Intimität zu kurz greift. Heute spielen Freundschaften eine andere Rolle im Leben der Menschen als noch vor einigen Jahrzehnten. Ich bin überzeugt, dass Intimität Teil von Freundschaften sein kann – oder als ein flüchtiges Gefühl sogar zwischen fremden Menschen entstehen kann: beispielsweise beim Tanzen, wenn man für einen kurzen Zeitraum zu einer Einheit verschmilzt. Ich möchte verstehen, wie das funktioniert, und auch, woran es liegt, wenn dieses Gefühl ausbleibt.
Wie wollen Sie das Thema erforschen?
Ich werde mich auf das Tanzen konzentrieren, und speziell auf den Tanz Lindy Hop. Dieser Tanz entstand vor rund einhundert Jahren in den USA und wurde zunächst ausschließlich von Schwarzen Menschen getanzt. Vieles ist anders als im klassischen Paartanz. Beispielsweise gibt es keine festgelegten Rollen: Männer und Frauen können miteinander tanzen, aber auch Männer und Männer oder Frauen und Frauen. Jeder Tänzer und jede Tänzerin kann führen. Zudem wird viel improvisiert, und das mit eher wenig Körperkontakt. Die Tanzenden müssen sich also besonders gut aufeinander einstellen, um die feinen Signale des Gegenübers aufzufangen. Die dabei entstehende Intimität ist subtiler und deswegen für meine Forschung besser geeignet als beispielsweise der Tango, der explizit mit heterosexueller Erotik und Leidenschaft verknüpft wird.
Und wie genau wollen Sie erforschen, ob und wie Intimität beim Lindy Hop Tanzen entsteht?
Intimität ist für Außenstehende schwer zu beurteilen. Es ist ein Gefühl, dass in Menschen entsteht und subjektiv empfunden wird. Deswegen werde ich vor allem Tanzende interviewen und auch meine eigenen Erlebnisse beim Tanzen erforschen. Darüber hinaus werde ich Tanzende filmen und schauen, ob oder wie weit mir das Filmmaterial Anhaltspunkte für das Entstehende oder Ausbleiben von Intimität liefert. Ist dieses Gefühl für Außenstehende sichtbar? Und wenn ja, woran macht sich das fest? Spannend finde ich auch die Frage, ob es von zwei Menschen, die miteinander tanzen, einigermaßen gleich empfunden wird. Ich überlege noch, ob ich hier auch mit Doppelinterviews arbeiten werde.
Warum ist das Thema wichtig?
Intimität ist etwas, das alle Menschen kennen und brauchen. Doch im vergangenen Jahrhundert hat sich die Lebenswelt der Menschen verändert; beispielsweise leben viele als Singles, ohne feste Partnerschaften. Ich möchte überprüfen, ob diese neuen Lebenswirklichkeiten neue Formen von Intimität geschaffen haben. Und ich möchte mit meiner Arbeit dazu beitragen, das Verständnis von Intimität unter Soziologinnen und Soziologen zu erweitern. Die sogenannte Körpersoziologie, in der meine Dissertation angesiedelt ist, ist noch eine vergleichsweise junge Disziplin. Forschende beschäftigen sich erst seit einigen Jahrzehnten mit den Realitäten, die Körper schaffen. Dabei sind diese unumgänglich. Jeder Mensch hat einen Körper, und wir nehmen andere Menschen körperlich wahr. Wir sehen unser Gegenüber, riechen ihn oder sie vielleicht sogar, spüren seine oder ihre Wärme oder Präsenz – was das bewirkt, ist in der soziologischen Forschung zu Intimität noch sehr wenig untersucht worden. Ich möchte dazu beitragen, dies zu ändern.