Seismisches Messnetzwerk auf dem Campus BahrenfeldDen Schwingungen auf der Spur
16. Juni 2021, von Niklas Keller
Foto: DESY/Marta Mayer
Zwei Wochen lang hat ein interdisziplinäres Forschungsteam Schwingungen auf dem DESY-Gelände am Campus Bahrenfeld gemessen, um neue Messtechniken mit Glasfaserkabeln zu erforschen. Physik-Experimente, Klimaforschung und Stadtentwicklung könnten davon profitieren – mitgeholfen hat auch ein ungewöhnliches Fahrzeug.
Still ist es auf dem Gelände des Forschungscampus Bahrenfeld. Dann nähert sich mit gemächlichem Tempo ein weißer Truck der Messstelle auf der westlichen Seite des DESY. Vibro-Truck heißt das Fahrzeug, das sich über einem Kreuz aus Kreide positioniert und eine runde Platte zwischen seinen vier Rädern auf den Boden absetzt. Die Reifen werden leicht angehoben, sodass die Rüttelplatte fest auf den Boden presst. Dann beginnt der Truck zu rütteln. „Die erzeugten Schwingungen fangen bei tiefen Frequenzen von ca. 4 Hertz an und erhöhen sich dann über eine Minute auf bis zu 120 Hertz“, erzählen Juniorprofessorin Celine Hadziioannou vom Institut für Geophysik und Juniorprofessor Oliver Gerberding vom Institut für Experimentalphysik. „Die Schwingungen verbreiten sich über das ganze DESY-Gelände und werden von uns über mehrere Kilometer Entfernung gemessen.“
Seit Dezember 2020 haben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von der Universität Hamburg, des DESY und des GeoForschungsZentrums Potsdam (GFZ) zusammengefunden, um im Zuge eines Gutachtens, für das der Vibro-Truck ohnehin unterwegs ist, eigene Messungen vorzunehmen. Ihr Ziel ist es, ein seismisches Messnetzwerk auf dem zukünftigen Campus der Science City Bahrenfeld auf die Beine zu stellen. Die Initiative hört auf den Namen WAVE und nutzt die Gelegenheit, um einen ersten Test mit einem solchen Netzwerk durchzuführen. Die durch den Vibro-Truck verursachten Schwingungen helfen dabei zu verstehen, wie die Messgeräte reagieren und wo man sie am besten platzieren sollte. Insgesamt sind mehr als zwölf Personen an der Initiative beteiligt – vonseiten der Uni Hamburg vier Professorinnen und Professoren.
50 Terabyte Daten in zwei Wochen
Mithilfe von Seismometern und Geophonen messen die Physikerinnen und Physiker sowie Ingenieurinnen und Ingenieure zwei Wochen lang die Schwingungen. Dafür bestimmen sie nicht nur Bewegungen, die an normalen Forschungstagen entstehen, sondern auch welche, die durch den Vibro-Truck künstlich an verschiedenen Standorten hervorgerufen werden. Außerdem nutzen sie ein weiteres, noch experimentelles Messinstrument: das Telekommunikationsfasernetz, bestehend aus normalen Glasfaserkabeln, die größtenteils unter der Erde verlegt sind.
„Dass Glasfasern auch als sensible Messinstrumente genutzt werden können, ist eine Entwicklung der letzten Jahre und hat die Geophysik revolutioniert. Sie macht es möglich, auf einer langen Strecke alle 10 Meter Messdaten zu erheben“, erzählt Hadziioannou. Insgesamt zwölf Kilometer Glasfaserkabel werden überwacht – das entspricht quasi 1200 Seismometern.
Möglich wurde diese noch relativ neue Messmethode durch sogenannte Interrogatoren, an denen die Glasfasern angeschlossen werden. Bewegt sich der Untergrund, so hat dies Auswirkungen auf das Streulicht in den Fasern. Ein Interrogator misst in zehn Mikrosekunden – also quasi in Echtzeit - das Streulicht und berechnet die Schwingungen mit sehr hoher räumlicher Auflösung. Auf diese Weise kann bei DESY das gesamte Gelände nach Erschütterungen abgesucht werden. Sogar die Autos, die an einem der vielen Messpunkte vorbeifahren, werden auf dem Bildschirm sichtbar. In den zwei Wochen, in denen die Interrogatoren Tag und Nacht liefen, kamen gut 50 Terabyte an Daten zusammen.
Viele aussichtsreiche Möglichkeiten
Die WAVE-Initiative ist überzeugt von den vielen Potenzialen des Vorhabens. „Wir hoffen, dass wir dank dieser Forschung viel besser charakterisieren können, wo und wann Störquellen auftreten, die unsere präzisen Messungen beeinflussen“, sagt Gerberding. Bei DESY sei es wichtig, dass Experimente nicht durch Schwingungen und Störquellen im Boden gestört werden. Mithilfe eines seismischen Messnetzwerks könnte man nicht nur Störquellen erkennen, sondern auch unterdrücken oder aus den Messergebnissen im Nachhinein herausrechnen. „Bis dahin ist aber noch viel Forschung notwendig“, meint der Forscher.
Auch die Gravitationsforschung könnte profitieren. Gravitationswellen sind äußerst schwer nachzuweisen, weil sie nur sehr kleine Längenveränderungen auf der Erde verursachen. Schwingt noch dazu die Erde selbst, so lassen sich Gravitationswellen nicht mehr sicher nachweisen. Gerberding und seine Kolleginnen und Kollegen vom Exzellenzcluster Quantum Universe versprechen sich durch die Kombination von Schwingungsmessungen im Boden und künstlicher Intelligenz weitreichende Fortschritte in der Forschung.
Klimawandel und Smart Cities
Für die Klimaforschung ergeben sich ebenfalls viele Vorteile. Ähnliche Experimente werden bereits im Rahmen des Exzellenzclusters CLICCS mit klassischen Seismometern durchgeführt, um die Veränderungen im Wasserhaushalt von Städten zu erforschen. „Mit einem seismischen Netzwerk beobachten wir nicht nur Störungen an der Oberfläche, sondern wir können insbesondere auch Veränderungen im Untergrund überwachen, auch solche die durch den Klimawandel entstehen“, sagt Hadziioannou.
Die Überwachung von großen Infrastrukturen, wie den Großforschungsanlagen bei DESY, können ebenfalls von diesen Netzwerken profitieren. Solche Konzepte werden bereits im Rahmen von sogenannten „Smart Cities“ diskutiert. Es wäre zum Beispiel möglich, das Knistern von brennenden Kabeln oder von Rohrbrüchen mit Fasern zu erkennen, die in Gebäuden verlegt sind.
Glasfasern sind kostengünstig und einfach zu verlegen
„Die Verlegung von Glasfasern ist äußerst simpel und kostengünstig“, sagt Celine Hadziioannou. Bereits jetzt seien viele Kilometer im Erdreich für Telekommunikation verbaut, wobei sich ungenutzte Fasern bereits für solche Experimente nutzen lassen. Im Rahmen der Messkampagne wurde zum Beispiel eine Faser genutzt, die am European XFEL entlangführt, vom DESY-Campus bis nach Schenefeld.
„Wir müssen verstehen, wie man die Technik zukünftig einsetzen kann“, sagt Hadziioannou. Offene Fragen sind zum Beispiel die Sensitivität der Fasersensoren im Vergleich zu klassischen Seismometern, die optimale Verlegung und Ankoppelung der Fasern an den Boden und die Echtzeit-Verarbeitung der großen Datenmengen mittels künstlicher Intelligenz.
Anstoßen im Biergarten
Entstanden ist die Initiative WAVE erst vor kurzem. Im Dezember kamen die ersten Forschenden zusammen, mit der Zeit weitere Partner. In stundenlangen Zoom-Meetings wurden die nächsten Schritte diskutiert. „In den letzten sechs Monaten ist ein tolles Team herangewachsen, das mit viel Freude und Faszination das Projekt vorantreibt. Das war nur mit allen Beteiligten umsetzbar“, sagen Hadziioannou und Gerberding. Der Vibro-Truck, der im Rahmen des Gutachtens unterwegs war, sei für das Team großes Glück gewesen. Demnächst will die interdisziplinäre Gruppe aber erstmal zusammen ein Bier trinken gehen. Denn das war während der Corona-Pandemie noch nicht möglich.