Studie erforscht neuen TherapieansatzSelbstbewusst auf die Stimmen im Kopf reagieren
25. November 2020, von Anna Priebe
Foto: Projekt RELATE
Psychisch erkrankte Menschen, die Stimmen hören, haben oft einen hohen Leidensdruck. Ein Team des Arbeitsbereichs Klinische Psychologie und Psychotherapie untersucht nun erstmals in einer Studie in Deutschland einen neuen Therapieansatz. Prof. Dr. Tania Lincoln erklärt das Forschungsvorhaben.
Nicht betroffene Menschen können es sich schlecht vorstellen – was empfinden Patientinnen und Patienten, die Stimmen hören?
Viele Leute kennen das, dass man ab und zu mal was hört, was nicht da war, zum Beispiel beim Einschlafen oder Aufwachen. Manchmal denkt man auch, man hört seinen Namen und dann ist da aber niemand. Manche Menschen hören aber auch regelmäßig Stimmen, obwohl niemand mit ihnen spricht. Behandlungsbedürftig wird dies aber erst, wenn es jemanden belastet oder in seiner Alltagsbewältigung stört. Das betrifft rund vier Prozent der Bevölkerung. Die meisten von ihnen haben die Symptome im Rahmen einer psychischen Erkrankung, etwa einer Psychose.
Wie die Stimmen empfunden werden, hängt zum einen vom Inhalt ab, also davon, was die Stimmen sagen. Wenn sie etwas Negatives sagen, etwa „Du bist langweilig“ oder „Schau doch, wie lächerlich du aussiehst“, ist das natürlich belastender als wenn Stimmen positiv agieren mit Sätzen wie „Das machst du gut“ oder „Ich bin bei dir“. Dabei kommt es auch stark darauf an, wie ausgeprägt und laut diese Stimmen sind.
Zum anderen hängt es aber auch davon ab, wie die Betroffenen die Stimmen bewerten. Manche empfinden das Stimmenhören durchaus als Bereicherung ihres Lebens, fühlen sich unterstützt oder geben den Stimmen insgesamt wenig Bedeutung. Andere sehen Stimmen als Beleg dafür, dass etwas mit ihnen nicht stimmt und sind schon allein wegen dieser negativen Bewertung stärker gestresst und belastet.
Psychosen oder Depressionen werden üblicherweise mit Medikamenten behandelt. Was ist das Neue am sogenannten „Relating-Ansatz“, den Sie nun erforschen wollen?
Die Medikamente helfen zwar gegen die zugrundeliegende Erkrankung, mildern also zum Beispiel die Psychose, aber sie wirken nicht unbedingt gegen die Stimmen, für die es keine spezifischen Medikamente gibt. Außerdem wollen viele Betroffene nicht ein Leben lang Medikamente nehmen und wünschen sich Alternativen. Psychologische Ansätze versuchen, spezifischer zu arbeiten. Manche setzen an den Bewertungen der Stimmen an, andere am direkten Umgang mit den Stimmen. Auch unsere Methode schaut: Wie reagiert jemand innerlich auf die Stimmen und wie sieht der Dialog mit ihnen aus.
Man hat nämlich festgestellt, dass Betroffene, die schon länger Stimmen hören, Beziehungen zu den Stimmen entwickeln und dass diese Beziehungen durchaus Ähnlichkeiten aufweisen zu den Beziehungen zu anderen Menschen. In der Interaktion mit den Stimmen kann man genauso selbstsicher, aggressiv oder unterwürfig reagieren wie im Umgang mit Menschen. Wobei man herausgefunden hat, dass aggressive oder unterwürfige Reaktionen die Betroffenen stärker belasten. Sie sollen daher in der Therapie ihre Reaktionen auf die Stimmen und auf andere Menschen reflektieren und alternative Reaktionen ausprobieren und üben. Dazu macht man zum Beispiel durch kleine Rollenspiele, in denen der Therapeut oder die Therapeutin die Stimme spricht und die Patientin oder der Patient selbstsicher auf die Stimmen reagieren soll.
Wer kann davon profitieren?
Die Therapie ist für alle Patientinnen und Patienten geeignet, die Stimmen hören, von denen sie sich belastet fühlen. In unserer Studie untersuchen wir speziell die Wirksamkeit der Therapie für Menschen, die Stimmen im Rahmen psychotischer Erkrankungen hören, zum Beispiel Schizophrenie. Es können sich aber auch Patienten ohne Schizophrenie, die unter belastendem Stimmenhören leiden, bei uns nach einem Therapieangebot erkundigen.
Bei medizinischen Versuchen ist es üblich, die Wirksamkeit durch den Vergleich mit Placebo-Gruppen zu testen. Ein Teil der Probandinnen und Probanden erhält keinen Wirkstoff. Wie ist das methodische Vorgehen bei Ihrer Studie?
Auch bei psychologischen Wirksamkeitsstudien gibt es Kontrollgruppen. Bei uns bedeutet das, dass wir unsere Ergebnisse mit Patientinnen und Patienten vergleichen, die nur die grundlegende Therapie für ihre psychotische Störung erhalten. Die Betroffenen bekommen also ihre üblichen Medikamente, ihre psychotherapeutische oder sonstige Behandlung. Aber bei den Teilnehmenden erproben wir zusätzlich unseren Ansatz. Wir untersuchen damit seinen Mehrwert über die Standardbehandlung hinaus. In weitergehenden Studien wollen wir dann schauen, in Kombination mit welchen anderen Therapien sich gegebenenfalls besondere Synergien schaffen lassen.
Was ist das Potenzial des neuen Ansatzes für andere psychische Erkrankungen?
Erste, allerdings sehr kleine Studien, haben gezeigt, dass von der Herangehensweise alle Betroffenen, die Stimmen hören, profitieren – unabhängig von ihrer Grunderkrankung. Das muss nun weiter untersucht werden und steht auch bei uns im Fokus. Eine Gruppe in England untersucht momentan aber zum Beispiel die Wirkung bei Essstörungen – als Konfrontation mit der inneren Stimme. Insofern gibt es tatsächlich erste Ansätze, die das weiterdenken. Aber das muss sicher weiter erforscht werden.
Das Projekt „RELATE“
Im Forschungsprojekt „RELATE“ sollen die Durchführbarkeit und die Wirksamkeit des neuen psychotherapeutischen Ansatzes der „Relating Therapy“ für Menschen mit psychotischen Störungen und belastendem Stimmenhören untersucht werden. Bisher wurde die Methode nur in einer kleinen Pilotstudie erforscht. Das Hamburger Projekt wird in drei Therapiezentren in Hamburg, Bremen und Leipzig durchgeführt und testet konkret, ob eine Behandlung mit Relating Therapy zusätzlich zur Standardversorgung wirksamer ist als die alleinige Standardversorgung. Betroffene und Interessierte erhalten auf der Webseite des Projekts mehr Informationen zur Studie sowie zu einer möglichen Teilnahme.