Studie zur Jugendpolitik der AfD„Man erkennt Strategien, die auf eine autoritär-nationalistisch verfasste Gesellschaft abzielen“
24. November 2020, von Viola Griehl
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Die Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) ist mittlerweile in allen deutschen Landesparlamenten vertreten und kann vor allem in den ostdeutschen Bundesländern einen hohen Anteil an Stimmen, auch von jungen Menschen, verzeichnen. Wie die Jugend- und Bildungspolitik der AfD konkret aussieht, hat jetzt ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universitäten Hamburg, Siegen und Marburg untersucht.
Herr Dr. Schuhmacher, Herr Schwerthelm, wie nähert man sich empirisch einer derartig polarisierenden Partei?
Nils Schuhmacher (NiS): Indem man sich anschaut, was sie konkret macht, in unserem Fall im Bereich der Jugend- und Bildungspolitik. Seit einigen Jahren berichten uns auf Tagungen Vertreterinnen und Vertreter von Einrichtungen, Trägern und Jugendämtern von ihrer Wahrnehmung, dass Angehörige der AfD und andere Akteure aus dem rechten Lager versuchen, die Jugendpolitik in ihrem Sinne zu beeinflussen. Das hat uns zu der Frage gebracht, welche Themen und Dynamiken hier eigentlich zu erkennen sind. Dies haben wir beispielhaft am Arbeitsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit untersucht. Uns war dabei wichtig, dass wir nicht ausschließlich nach nur einer Partei fragen, weil wir einen umfassenderen Eindruck bekommen wollten, welche Parteien in welcher Form auf die Jugend- und Bildungspolitik einwirken wollen.
Wir haben also Fachkräfte aus diesem Bereich zu Erfahrungen mit politischen Infragestellungen, Einflussnahmen und befragt. In einer anderen Studie hat das Marburger Team um Prof. Dr. Benno Hafeneger zur selben Zeit parlamentarische Dokumente, wie bspw. Kleine und Große Anfragen sowie Anträge der AfD zum gesamten Komplex der Jugend- und Bildungsarbeit ausgewertet.
Die Daten unserer eigenen Erhebung zeigen: Die AfD ist jene Partei, die am häufigsten genannt wird, wenn es um politische Interventionen geht. Es lag damit nahe, die Befunde der Marburger Studie und Teilbefunde unserer Erhebung in einer Veröffentlichung zusammen darzustellen. Insgesamt ergibt sich daraus ein erstes Bild, zu welchen Themen und Begriffen die AfD aktiv ist, welche Ziele sie dabei verfolgt und welches Jugendbild bzw. Verständnis von Sozialpädagogik dem zugrunde liegt.
Was genau haben Sie untersucht und mit welchem Material haben Sie gearbeitet?
Moritz Schwerthelm (MoS): Wir haben uns wie gesagt auf den Bereich der Offenen Kinder- und Jugendarbeit konzentriert und im Frühjahr 2020 eine qualitative, nicht-repräsentative bundesweite Erhebung unter entsprechenden Einrichtungen und Trägern unternommen. Mittels Fragebögen haben wir nach den Formen und Akteuren politischer Interventionen in den letzten fünf Jahren gefragt. Vor allem wollten wir auch wissen, wie die Betroffenen mit diesen Interventionen umgehen, wie Unbeteiligte darauf reagieren, welche persönlichen und institutionellen Auswirkungen zu verzeichnen sind, welche Befürchtungen existieren und welche Forderungen und Bedarfe sich daraus für die Betroffenen ergeben. Zusätzlich haben wir Fälle von Interventionen einbezogen, die in den Medien thematisiert wurden.
Insgesamt haben wir durch Fragebögen und Recherchen knapp 200 Fälle identifiziert, in denen Fachkräfte direkt oder indirekt von Einflussnahmen und Angriffen unterschiedlichster politischer Akteure betroffen sind. In 82 Fällen gehen diese Einflussnahmen initiativ auf die AfD zurück, der Rest verteilt sich auf ein breites Spektrum anderer Akteure.
Diese 82 Fälle haben wir für die Veröffentlichung genauer analysiert. Wir sprechen hier von Anfragen in politischen und fachpolitischen Gremien und Ausschüssen bis hin zu öffentlichen Angriffen, von infrage stellenden E-Mails bis hin zu verdeckten Auftritten in Jugendeinrichtungen, bei denen AfD-Angehörige unliebsame Zustände dokumentieren. Unsere qualitativen Befunde decken sich, was Inhalte und Themen angeht, mit den Ergebnissen der KollegInnen aus Marburg und Siegen
Kurz zusammengefasst: Wie sieht die Jugendpolitik der AfD laut Ihrer Studie aus?
NiS: In unseren Daten finden wir zwar keine Hinweise auf eine systematische oder koordinierte Einflussnahme der AfD auf die Jugend- und Bildungspolitik in Bund, Ländern und Kommunen. Man erkennt jedoch übergeordnete Logiken und Strategien der Partei oder innerhalb der Partei, die auf eine autoritär-nationalistisch verfasste Gesellschaft abzielen.
Insgesamt ist die AfD in parlamentarischen und fachpolitischen Bereichen zu diesem Thema sehr aktiv. Sie reagiert zum Beispiel in Anfragen oft auf Themen oder Ereignisse, in denen bestimmte Schlüsselbegriffe wie „Menschenrechte“, „Vielfalt“, „Antirassismus“, „Antifaschismus“ oder ähnliches vorkommen. In vielen Fällen zieht auch die sozialpädagogische Arbeit mit gesellschaftlich benachteiligten Gruppen, z. B. Geflüchteten, oder eine geschlechterreflektierende Praxis das Interesse der AfD auf sich.
MoS: Die AfD forciert auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinende Stoßrichtungen in ihrer Jugendpolitik. Einerseits erkennt man eine konstruierte Politisierung von Einrichtungen und Projekten der Jugendarbeit und politischen Bildung, indem diese als 'linksextrem' markiert werden, auch wenn sie nur ihren gesetzlichen Auftrag erfüllen. Zum anderen wird unter dem Schlagwort der Neutralität von den Einrichtungen oder Projekten eine Art politische Entleerung gefordert. Dies wird auch auf die Besucherinnen und Besucher der Einrichtungen ausgedehnt.
Um ein typisches Beispiel zu geben: In einem Fall, den wir untersucht haben, wurde die AfD auf ein Jugendzentrum aufmerksam, das sich für Menschenrechte und Antirassismus einsetzt. Sie stellte dann im Jugendhilfeausschuss die Anfrage, ob das ‚neutrale‘ Jugendarbeit wäre. Dort, wo die AfD damit Erfolg hat, wird letztlich der vorpolitisch-demokratische Konsens unserer Gesellschaft - also die Übereinstimmung in Grundprinzipien wie Gleichheit, Vielfalt und Menschenrechten, auf dessen Basis demokratisches Handeln möglich wird - in Frage gestellt. Jugendeinrichtungen müssen ihre Arbeit plötzlich rechtfertigen oder gar um ihre Finanzierung bangen. Die Stoßrichtung in den von uns erfassten Fällen ist im Grunde immer dieselbe: in Frage gestellt und angegriffen werden Konzepte und Praktiken, die sich für Demokratie, Partizipation, Emanzipation, eine offene Gesellschaft und gesellschaftlichen Zusammenhalt einsetzen.
„AfD und die Jugend – Wie die Rechtsaußenpartei die Jugend- und Bildungspolitik verändern will“
Die Veröffentlichung „AfD und die Jugend – Wie die Rechtsaußenpartei die Jugend- und Bildungspolitik verändern will“ ist eine Kooperation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universitäten Hamburg, Marburg und Siegen. Aus der Universität Hamburg waren Moritz Schwerthelm (Arbeitsbereich Sozialpädagogik der Fakultät für Erziehungswissenschaft), Dr. Nils Schuhmacher (Lehrbeauftragter im Fachgebiet Kriminologische Sozialforschung) und Gillian Zimmermann (Studentin Internationale Kriminologie) beteiligt. Gemeinsam mit Prof. (em.) Dr. Benno Hafeneger (Institut für Erziehungswissenschaft der Philipps-Universität Marburg) und Hannah Jestädt (wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department Erziehungswissenschaft der Universität Siegen) wurde untersucht, wie die AfD über Jugendpolitik auf die Zivilgesellschaft Einfluss nehmen will. Es wurden u. a. mehr als 700 parlamentarische Interventionen der AfD zu den Themen Jugendarbeit, Jugendbildung und jugendliche Lebensweisen ausgewertet und durch Fragebögen und Recherchen 82 Fälle aus der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in einem Zeitraum der letzten fünf Jahre qualitativ analysiert.