Fernerkundung von Flüchtlingslagern„Satellitenbilder sind nicht objektiv oder neutral“
9. November 2020, von Christina Krätzig
Foto: www.arcgis.com/apps/MapSeries/index.html?appid=67a88f4302a748c4bfd61e57801ce81c
Satelliten liefern immer genauere Daten, die Regierungen oder auch NGOs für immer mehr Einsatzgebiete verwenden. Inzwischen werden auch Flüchtlingslager aus dem Weltraum beobachtet. Doch das wirft humanistische und politische Fragen auf, erklärt der Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Dr. Miguel Rodriguez Lopez von der Universität Hamburg.
Herr Rodriguez, Sie und Ihr Ko-Autor bzw. Ihre Ko-Autorin haben für eine gerade veröffentliche Studie zwei Flüchtlingslager in Jordanien untersucht und den Eindruck, den die Satellitenbilder vermittelten, kritisch hinterfragt. Wie sind Sie auf die Idee für diesen Forschungsansatz gekommen?
Seit einigen Jahren werden Satellitendaten immer stärker für die kleinräumige Erfassung menschlicher Aktivitäten eingesetzt, auch in unserer Forschung. Aus dem Weltraum lassen sich beispielsweise Siedlungsstrukturen oder die Lage bestimmter Objekte erfassen. Doch solche Bilder zeigen die Realität immer auf eine einseitige und damit verzerrte Weise. Sie sind nicht objektiv oder neutral, obwohl sie häufig so wahrgenommen werden. Deswegen wollten wir den unkritischen, unreflektierten Umgang mit ihnen problematisieren.
Wie zeigen die Satellitenbilder die Camps, in denen Sie geforscht haben?
Die beiden Lager für syrische Flüchtlinge in Jordanien sind 2012 und 2014 entstanden. Das eine, Zaatari, hat sich mit wenig zentraler Planung entwickelt und ist seit 2013 explosionsartig gewachsen. Auf Satellitenbildern werden seine unregelmäßigen, einander überlagernden, teilweise chaotischen Strukturen sichtbar.
Das andere Lager, Azraq, wurde 2014 am Reißbrett entworfen. Aus dem Weltraum wirkt die Zeltstadt wie ein aufgeräumter, wohlgeordneter Ort.
Diese Bilder werden von der Regierung, von NGOs und von den Medien benutzt, um die Lager zu beobachten und über sie zu berichten. Und wir haben herausgefunden, dass die Wahrnehmung der Lager den Satellitenbildern entspricht: Zaatari gilt als chaotisch, verwahrlost und sogar kriminell, Azraq als ein strukturierter, leicht zu verwaltender Ort.
Bildschirmaufnahme des Zuweisungssystems für Notunterkünfte in Azraq. (Quelle: UNHCR 2016)
Und stimmen diese Eindrücke?
Meine Koautorin Christiane Fröhlich hat die Lager besucht, mit Methoden der teilnehmenden Beobachtung gearbeitet und Bewohnerinnen und Bewohner interviewt. Dabei hat sich ein völlig anderer Eindruck ergeben. In Zaatari hat sie Menschen getroffen, die einfallsreich und optimistisch sind und jeden noch so kleinen Freiraum nutzen, um ihre Situation selbst zu gestalten und zu verbessern. Sie bauen ihre provisorischen Unterkünfte aus, legen improvisierte Gärten an und betreiben sogar kleine Geschäfte. Ihre Widerstandsfähigkeit scheint ebenso hoch wie ihr Gemeinschaftssinn. Im Gegensatz dazu werden die Menschen in Azraq vieler stärker überwacht. Dort wird jede persönliche Initiative unterbunden, und es entsteht ein schrecklicher Lebensraum, den die meisten schnellstmöglich wieder verlassen.
Was schlussfolgern Sie daraus?
Satellitendaten sind an sich nicht gut oder schlecht. Sie sind wichtige Werkzeuge, um etwas sichtbar zu machen, was von der Erde aus nicht sichtbar ist. Klassischerweise arbeiten Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler mit ihnen, um beispielsweise die Eisbedeckung der Arktis zu messen oder die Umwandlung von Regenwäldern in Kulturland zu verfolgen. Das sind großräumige Prozesse, für deren Erfassung Satellitendaten unverzichtbar sind. Doch die heutige Auflösung der Bilder ermöglicht eben auch die Beobachtung kleinräumiger Strukturen und menschlicher Aktivitäten. Man kann beispielsweise einzelne Stadtteile für soziologische Forschungen unter die Lupe nehmen, oder eben Flüchtlingscamps.
Wir haben also ein Werkzeug, dessen Nutzung sich derzeit stark verändert. Die kritische Reflexion seiner Wirkungsweise kommt unserer Meinung nach bisher zu kurz. Das wollten wir mit unserer Arbeit ändern.
Wissenschaftlicher Fachartikel: „Digital humanitarianism and the visual politics of the refugee camp – (un)seeing control”
Autoren: Dr. Delf Rothe, Institut für Frieden und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Dr. Christiane Fröhlich, German Institute for Global and Area Studies (GIGA), Dr. Juan Miguel Rodriguez Lopez, Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN) an der Universität Hamburg.
Miguel Rodriguez Lopez
Der Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Dr. Miguel Rodriguez Lopez ist Mitglied im Exzellenzcluster für Klimaforschung, Climate, Climatic Change, and Society (CLICCS) und hat im Nahen Osten erforscht, wie Klimawandel und Wassermangel im Jordantal verfeindete Parteien zu Partnern machen kann. Er hat sich auch in der Vergangenheit schon mit Fernerkundung beschäftigt und diese Methode bei einer Arbeit zur Stadtentwicklung in Mexiko Stadt eingesetzt.