Soziologisches Interviewprojekt zur Corona-PandemieWie unterschiedlich Menschen die Krise erleben
22. Oktober 2020, von Tim Schreiber
Foto: privat
Als die Corona-Pandemie nach Deutschland kam, stellte sie die Menschen vor unterschiedliche Herausforderungen. Einblicke in Lebenssituationen bieten die Soziologinnen Dr. Sarah Lenz und Martina Hasenfratz. Sie haben sich auf die Suche nach interessanten Geschichten gemacht und Interviews geführt.
Wie sind Sie auf die Idee für dieses Projekt gekommen?
Lenz: Zu Beginn saßen viele von uns alleine, mit ihren Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern oder der Familie in ihren Wohnungen. Es war doch recht isoliert – man hat wenig von anderen mitbekommen. Deshalb wollten wir wissen, wie die Welt dort draußen oder drinnen in den Wohnungen aussieht. Wir waren und sind ja alle von der Corona-Krise betroffen, gleichzeitig wird diese Situation aber von Menschen ganz unterschiedlich erlebt. Vor allem vor dem Hintergrund des eigenen Berufs, unterschiedlicher finanzieller Ausstattung, der Familiensituation, des Alters oder auch der sozialen Herkunft. Das hat uns interessiert. Deshalb haben wir uns überlegt, dass wir die ganz individuellen Situationen als Ausgangspunkt nehmen für unsere Betrachtung. Wir wollen also beschreibbar und erfahrbar machen, was unterschiedliche Personen innerhalb der Krise erleben und bewältigen müssen.
Deshalb haben Sie Interviews geführt…
Lenz: Ja, wir haben mit unserem Team insgesamt 60 Interviews geführt, mit Personen aus unterschiedlichen Berufen, Altersklassen und Hintergründen. Hauptsächlich in den ersten Wochen der Beschränkungen. Das ist unsere empirische Basis. Inspirationsquelle war dabei zum Beispiel Pierre Bourdieu mit dem Band „Das Elend der Welt“. Darin gibt es auch eine Sammlung von Interviews zu einer bestimmten Situation, nämlich dem Leben in den Banlieues von Paris.
Wie haben Sie die Interviewpartner gefunden und ausgewählt?
Hasenfratz: Das war eine Herausforderung. Wir haben uns zunächst in unserem persönlichen Umfeld bewegt und sind dann darüber hinaus gegangen. Wir haben versucht, bei der Wahl der Personen möglichst ausgewogen zu sein, aber: Wir wollen und können keinen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft abbilden. Uns ging es auch darum, interessante Geschichten abzubilden. Wir haben etwa mit einem einsamen Taxifahrer gesprochen, der eine unglaubliche Angst davor hat, sich aufgrund seines Berufs anzustecken oder mit einer alleinerziehenden Künstlerin, die durch Corona in finanzielle Schwierigkeiten gekommen ist und sich von der Politik im Stich gelassen fühlt.
Das klingt ein wenig journalistisch.
Hasenfratz: Ja, es geht in die Richtung. Wobei wir das Ganze schon anders einbetten als Journalistinnen und Journalisten. Wir bleiben ganz nah am Interviewmaterial und setzen die Geschichten in einen breiten soziologischen Kontext. Außerdem werden die – wie wir sie nennen – „soziologischen Geschichten“ durch eine Reihe sozialwissenschaftlicher Essays ergänzt. Dennoch richtet sich das Buch nicht in erster Linie an ein Fachpublikum, sondern an die gesamte Gesellschaft. Es geht uns darum, die Geschichten der Personen und ihre je spezifischen Herausforderungen währen der Corona-Pandemie sprechen zu lassen. Dazu gibt es noch eine Chronik als eine Art roter Faden. Diesen braucht man zum Beispiel, wenn es um Grenzschließungen oder die Einführung der Maskenpflicht geht. Der zeitliche Zusammenhang wird in der Nachbetrachtung sonst nicht mehr deutlich.
Gibt es schon erste Einschätzungen oder Ergebnisse?
Lenz: Damit sprechen Sie auch ein zweites Anliegen unseres Buches an. Wir wollen herausfinden, was das Spezifische der derzeitigen Krise ist und wie sie sich von anderen Krisen unterscheidet. Der Soziologe Ullrich Beck hat 1986 sein Buch zur Risikogesellschaft herausgebracht, zeitgleich zur Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Darin beschreibt er Risiken des technischen Fortschritts. Der Unterschied zu heute ist, dass in der aktuellen Krise zunächst nicht der technische Fortschritt die Ursache der Krise ist, sondern die Menschen selbst, also zum Beispiel im Bus, im Supermarkt oder auch Kolleginnen und Kollegen im Büro.
Hasenfratz: Das „In-Gesellschaft-Sein“ als fundamentale Voraussetzung menschlichen Zusammenlebens wird selbst zum Risiko. Somit begreifen wir die Corona-Pandemie als eine neue Facette der Risikogesellschaft. Denn ohne den technischen Fortschritt wäre eine so rasante Ausbreitung des Virus über den gesamten Globus kaum denkbar.
Was interessiert Sie als Soziologinnen an der Corona-Krise besonders?
Lenz: In Krisenzeiten – wie beispielsweise auch während der Finanzkrise vor ein paar Jahren – ist es immer interessant, dass sich gesellschaftliche Prozesse zuspitzen. Das beobachten wir in der Corona-Krise auch. Wir sehen, dass Problemlagen, die oftmals vorher schon bestanden, verdichtet zum Ausdruck kommen. Das kann in der Wirtschaft sein, in Arbeitsverhältnissen oder bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Für uns wird es dann besonders interessant, weil wir zu solch historisch einmaligen Momenten vieles über die Gesellschaft erfahren können.
Wir sind noch mittendrin in der Corona-Krise. Ist es für die Soziologie üblich, ganz aktuelle Themen zu erforschen oder ist das eher schwierig?
Hasenfratz: Die Soziologie befasst sich immer auch mit Zeitdiagnose und Gegenwartsanalyse. Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass wir selbst Teil des Ganzen sind und die Krise selbst erfahren. Das müssen wir reflektieren. Die Soziologie nimmt aber gerade bei aktuellen Situationen eine wichtige Rolle ein, wenn es darum geht, gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu beobachten und einzuordnen. Schließlich können daraus auch politische Handlungsempfehlungen folgen, etwa auch, wenn es um den Umgang mit anderen aktuellen, aber auch zukünftigen Krisen geht. So zeigen die Reaktion und politischen Strategien der Länder, wie wichtig ein globaler Zusammenhalt ist. Dies scheint erst der Anfang zu sein, blicken wir auf die ökologischen Katastrophen wie der Klimawandel oder das Artensterben.
Über das Projekt
Die Interviews für das Projekt wurden anhand eines Leitfadens geführt, waren jedoch grundsätzlich offen. Sie dauerten jeweils circa eine bis eineinhalb Stunden. Das daraus resultierende Buch soll im kommenden Jahr veröffentlicht werden.
Neben Sarah Lenz und Martina Hasenfratz sind von der Universität Hamburg noch Sören Altstaedt, Natalia Besedovsky, Marco Hohmann, Nadine Maser, Sighard Neckel, Elgen Sauerborn, Nina Sökefeld, Christan Eberlein, Elisabeth Bosserhoff und Paul Weinheimer beteiligt, dazu Ruth Manstetten von der Justus-Liebig-Universität Gießen, Karina Becker von der Dualen Hochschule Gera-Eisenach, Greta Wagner von der TU Darmstadt, Annerose Böhrer, Marie-Kristin Döbler und Larissa Pfaller von der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, Ekkehard Coenen von der Bauhaus-Universität Weimar, Viola Dombrowski und Marc Hannappel von der Universität Koblenz-Landau, Debora Frommeld von der TH Regensburg und Michael Grothe-Hammer von der University of Science and Technology (Norwegen).