Wie die Corona-Pandemie sozialwissenschaftliche Arbeitsweisen verändertWenn Computer Bundestagsprotokolle lesen
20. Oktober 2020, von Christina Krätzig
Foto: Ulrike Sommer
Während der coronabedingten Einschränkungen ist es schwieriger geworden, Menschen für Umfragen oder Interviews zu treffen oder in Feldforschungsstudien an ihrem Alltag teilzunehmen. Weil das Forschende vor Herausforderungen stellt, gewinnen computerbasierte Methoden wie Data Mining oder digitale Ethnografie an Bedeutung. Diese bergen Chancen und Risiken zugleich, erklärt die empirische Kulturwissenschaftlerin Prof. Dr. Gertraud Koch. Sie leitet ein neues Forschungsprojekt zur automatisierten Analyse von Texten und Bildern, das mit knapp einer Million Euro gefördert wird.
Frau Koch, stellt die Corona-Pandemie Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler wie Sie vor gänzlich neue Herausforderungen?
Nein. Die Kommunikation über das Internet und die zunehmende Digitalisierung verändern unsere Forschungsmethoden schon seit Längerem. Das beobachte ich seit den 90er-Jahren. Corona hat diese Entwicklung beschleunigt: Jede und jeder muss sich nun damit auseinandersetzen, auch weniger computeraffine Forscherinnen und Forscher.
Wo kommen neue Methoden zum Einsatz?
Computerbasierte automatisierte Methoden können dort helfen, wo Material für die Forschung bereits vorhanden ist, wie beispielsweise Zeitungen oder Social-Media-Inhalte. Solches Material können wir mit Unterstützung von digitalen Verfahren auswerten. Eine Diskursanalyse ermöglicht uns beispielsweise eine Untersuchung, wie sich die Akzeptanz von digitalen Angeboten in der Gesundheitsversorgung im Zuge der Corona-Pandemie verändert.
Was für Methoden könnten da angewendet werden?
Webcrawler sind Computerprogramme, die Webseiten nach bestimmten Inhalten durchsuchen und in eingeschränktem Maß auch analysieren können. Beim Text-Mining werden verschiedene algorithmusbasierte Analyseverfahren genutzt, um Bedeutungsanalysen von Texten zu unterstützen. Solche Verfahren helfen, große Textmengen zu sichten und zu untersuchen. In einer aktuellen Diskursanalyse arbeiten wir beispielsweise mit Bundestagsprotokollen.
Welche Vorteile haben solche Verfahren?
Man kann große Textmengen zumindest vorsortieren. Die Bundestagsprotokolle sind nicht nur sehr umfangreich, sie werden auch als PDFs abgelegt. Es ist eine große Hilfe, wenn ein Computer sie öffnet, in bearbeitbare Dateien umwandelt und auf möglicherweise interessante Textstellen hinweist.
Gibt es auch Nachteile?
Absolut! Ein Computer sucht ausschließlich nach dem, was ich vorher definiert habe – alles andere sortiert er aus. Er ist nur bedingt in der Lage, seinen Fokus im Laufe einer Analyse zu verändern, weil ihm neue Sachverhalte oder Zusammenhänge nicht auffallen. Computer können Strukturen in Texten bereits sehr gut erkennen, Bedeutungen hingegen bislang nur ziemlich eingeschränkt erfassen. Die automatisierte Analyse von Bildinhalten ist bisher kaum möglich. Um das zu verbessern, werden wir ab dem kommenden Jahr mit der Informatik zusammen auch künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen stärker für unsere Fragestellungen nutzen.
Wie steht es um die klassische qualitative Forschung, die auf Begegnungen mit Menschen aus verschiedenen Gruppen basiert? Ist diese zurzeit völlig unmöglich?
Sie ist unter Corona-Bedingungen deutlich erschwert. Auch hier beschleunigt die Pandemie den Einsatz digitaler Methoden, die einen persönlichen Austausch über das Internet ermöglichen. Solche Methoden, wie beispielswiese verschiedene Arten von Chats, Videointerviews, das Verfassen von Blogs usw., vereinfachen den Zugang zur erforschten Gruppe - nicht nur in der derzeitigen Situation. Sie sind auch nützlich, wenn Forschende die Menschen, mit denen sie arbeiten, nur schwer treffen können, weil diese beispielsweise weit entfernt leben. Dabei sind allerdings viele rechtliche und ethische Aspekte zu beachten, ein wichtiges Stichwort ist hier der Datenschutz.
Glauben Sie, dass digitale Formate den persönlichen Kontakt in der Forschung langfristig ersetzen können?
Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass Computer die Interaktion zwischen Menschen nicht vollständig ersetzen können. Bei einer persönlichen Begegnung tauscht man sich auf vielen verschiedenen Ebenen aus. Es entsteht Vertrauen, das möglicherweise dazu führt, dass auch heikle Themen besprochen werden können. Trotzdem mache ich die Erfahrung, dass durch die Digitalisierung interessante neue Werkzeuge entstehen, die auch in diesen Bereichen unser Arbeitsspektrum erweitern können.
The Times Higher Education Forum: Talk mit Prof. Gertraud Koch zum Thema
Am 21. Oktober spricht Gertraud Koch im Rahmen der digitalen Veranstaltung The Times Higher Education Forum der Zeitschrift Times Higher Education über das Thema „Innovations in online research“. Der Talk findet zwischen 14:05 und 14:55 Uhr statt und ist für alle Interessierten offen. Teilnehmen kann man über diesen Link.
Forschungsprojekte hermA und D-Wise
Das Forschungsprojekt „Automatisierte Modellierung hermeneutischer Prozesse“ (hermA) wurde 2017 von der Landesforschungsförderung Hamburg bewilligt. Forschende aus der Computerlinguistik, der Kulturanthropologie, Literaturwissenschaft und Pflegewissenschaft arbeiten hier zusammen. Sie kommen von der Universität Hamburg, der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und der Technischen Universität Hamburg und wurden über einen Zeitraum von drei Jahren mit 1,6 Millionen Euro gefördert.
Das Folgeprojekt D-Wise befindet sich aktuell in der abschließenden Bewilligungsphase durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Es schließt in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Chris Biemann aus der Informatik an hermA an und weitet den Forschungsansatz auf Bildanalysen aus. Für das Projekt mit drei Jahren Laufzeit erhält die Universität Hamburg rund eine Millionen Euro Fördergelder.