Plakate, Zettel, Transparente„Die Corona-Krise hat die Sprachlandschaft dramatisch verändert“
19. Oktober 2020, von Christina Krätzig
Fast über Nacht tauchten während des ersten Lockdowns im März und April 2020 überall in der Stadt handgeschriebene Botschaften auf, gekritzelt auf Papier, Schaufensterscheiben oder das Straßenpflaster. Wie sich die Hamburger Sprachlandschaft während der Corona-Krise verändert hat, dokumentiert und erforscht der Linguist Prof. Dr. Jannis Androutsopoulos von der Universität Hamburg.
Arbeit, Freizeit, Kommunikation: In den vergangenen Monaten hat die Corona-Pandemie unser Leben in vielerlei Hinsicht auf den Kopf gestellt. „Dabei spiegelt die geschriebene Sprache das Geschehen nicht einfach nur wider, sondern setzt es in Gang und ermöglicht es erst“, sagt Prof. Dr. Jannis Androutsopoulos.
Bereits seit 2018 erforscht der Linguist die Sprachlandschaft Hamburgs. Die Sichtbarkeit und die Funktion von schriftlicher Sprache im öffentlichen Raum stehen im Zentrum des von ihm geleiteten Projekts LinguaSnappHamburg. Für das Projekt fotografieren Studierende Schilder aller Art.
In der Pandemie bestimmen improvisierte Mitteilungen das Stadtbild
„Mit dem Lockdown hat sich die Sprachlandschaft Hamburgs dramatisch verändert“, stellt Prof. Androutsopoulos fest. „In kürzester Zeit sind viele neue Texte entstanden. Auffällig in den ersten Wochen war ihr improvisierter und individueller Charakter. Schilder und Aushänge waren handgeschrieben oder schnell auf dem heimischen PC entworfen und ausgedruckt worden. Sogar Behörden, deren Sprache meist stark standardisiert ist, bedienten sich einer nicht standardisierten Sprache.“
Schließungen von Geschäften, Einschränkungen des Zugangs zu öffentlichen Plätzen: Vieles musste kurzfristig kommuniziert werden. Die Texte wurden meist auf Papier oder Pappe geschrieben, waren eher für die kurzfristige Information gedacht als dafür, länger zu überdauern. Bestimmte sprachliche oder bildliche Mittel wiederholten sich zwar, beispielsweise das Piktogramm der Mundschutzmaske oder sprachliche Aufforderungen wie „Einzeln eintreten". Sie waren jedoch immer wieder anders geschrieben oder gezeichnet.
Neben den Informationen und Aufforderungen kamen schnell auch affektive, also gefühlsbetonte Inhalte hinzu, zum Beispiel „Wir vermissen euch“ in den Fenstern von Kindergärten oder „Bleibt gesund“ mit Kreide aufs Straßenpflaster geschrieben. „Frappierend oft fanden sich auch Schilder, die beides enthielten, indem beispielsweise der Information über eine Geschäftsschließung ein ,Passt auf euch auf!´ hinzugefügt wurde. Das ist eine normalerweise eher seltene Mischung, die vermutlich den sozialen Zusammenhalt während der Krise stärken sollte“, sagt Jannis Androutsopoulos.
Erst die geschriebene Sprache gibt der Stadt ihren Sinn
Bleiben wird das Ausmaß der Regulation
Generell gehen Linguisten bei der Erforschung einer Sprachlandschaft davon aus, dass die geschriebene Sprache - ob in Form von Bildern, Zeichen oder Schrift - einem physischen Raum erst seinen sozialen Charakter verleiht. Oder anders gesagt: Ohne Schriftsprache erschließt sich dem Menschen der Sinn einer bebauten Struktur nicht.
Ob die Corona-Pandemie die Sprachlandschaft Hamburg nachhaltig verändern wird, kann Jannis Androutsopoulos jedoch noch nicht sagen. Das Unfertige, Spontane der ersten Wochen beginnt bereits zu verschwinden, vielerorts haben nun vorgefertigte Aufkleber oder Plakate die handgeschriebenen Zettel ersetzt. Auch der gefühlsbetonte Charakter vieler Botschaften ist im Rückgang begriffen. „Was jedoch noch eine Weile bleiben wird, ist das Ausmaß der Regulation“, vermutet der Sprachwissenschaftler. Abstandsregelungen, Hygienevorschriften, Laufwege – all dies muss ja auch zukünftig kommuniziert werden. Die Schilder, die dazu auffordern, gehören inzwischen zum Stadtbild dazu.
LinguaSnappHamburg
LinguaSnappHamburg ist ein partizipatives Projekt mit dem Ziel, die sichtbare Sprachenvielfalt im öffentlichen Raum der Freien und Hansestadt Hamburg fotografisch zu dokumentieren, öffentlich darzustellen und nachhaltig zu archivieren. Das Projekt wird im Rahmen des 100-jährigen Jubliäums der Universität Hamburg gefördert