Weltweit gibt es fast 70.000 Arten – manche setzen ihre Zähne wie Harpunen einSchnecken – eine der erfolgreichsten Tiergruppen der Evolution
30. September 2019, von Hendrik Tieke
Ein Forschungsteam der Universität Hamburg hat 16 neue Schneckenarten auf Java entdeckt. Prof. Bernhard Hausdorf vom Centrum für Naturkunde erklärt, warum Schnecken eine so erfolgreiche Tiergruppe sind, wie man im Dschungel nach ihnen sucht und wie sie selbst auf entlegene Inseln gelangen.
Bernhard Hausdorf ist Professor für Malakologie (Weichtierforschung) am Centrum für Naturkunde (CeNak) der Universität Hamburg. Hausdorf hat eine Doktorandin und indonesische Studierende bei einer Expedition in die Wälder Javas begleitet. Er war außerdem an der Entdeckung und Bestimmung neuer Schneckenarten beteiligt.
Herr Prof. Hausdorf, was ist an Schnecken so besonders?
Schnecken sind eine der erfolgreichsten Tiergruppen in der Evolution. Wenn man Land- und Wasserschnecken zusammenzählt, kommt man auf fast 70.000 Arten. Es gibt sie auf dem Meeresgrund, im Regenwald und selbst in den trockensten Wüsten. Schnecken sind extrem anpassungsfähig.
Warum sind sie so anpassungsfähig?
Fast alle Schnecken haben eine Zunge mit zahlreichen Zähnen. Bei den meisten funktioniert sie wie eine elastische Raspel, und die Schnecke kann damit Algenbeläge oder andere Pflanzenteile von den unterschiedlichsten Oberflächen ablösen. Dank dieser Zunge können viele Arten in den unwirtlichsten Gegenden überleben.
In der Negev-Wüste zum Beispiel können einige Arten mehrere Jahre im Boden in einer Trockenruhe überdauern – falls es dort einmal so lange nicht regnen sollte. Wenn dann wieder Tropfen fallen, erwachen die Tiere und ernähren sich von Algen, die in Kalksteinen siedeln. Die Schnecken raspeln die Steine ab, um an die Algen zu gelangen und tragen so zur Bodenbildung in der Wüste bei. In tropischen Meeren wiederum leben Kegelschnecken, die mit ihren Zähnen Nervengifte übertragen. Sie verschießen diese wie Harpunen und jagen damit Würmer und Fische.
Welche Schnecken hat ihr Team auf Java entdeckt?
Die neuen Arten gehören zur Gattung Landouria. Sie sind entfernt mit unseren Schnirkelschnecken verwandt, von denen die Weinbergschnecke die bekannteste ist. Ähnlich wie die meisten Landschnecken in Deutschland ernähren sich Landouria-Arten von verwesenden Pflanzenteilen und von Pilzen, die diese besiedeln. Und wie alle Lungenschnecken sind sie Zwitterwesen. Einige dieser Arten hat meine Doktorandin Ayu Savitri Nurinsiyah in den Regenwäldern der Karstregionen Javas entdeckt. Sie hat die Schneckenfauna dieser Gebiete systematisch untersucht – manchmal allein, manchmal zusammen mit indonesischen Masterstudierenden.
Sind solche Expeditionen gefährlich?
Gefährlicher als in Mitteleuropa, aber nicht lebensgefährlich. Java ist dicht besiedelt, 140 Millionen Menschen leben hier. Die Wälder sind dementsprechend klein; abends findet man fast immer eine Unterkunft. In einigen Wäldern gibt es noch Leoparden, die aber sehr scheu sind. Es gibt dort allerdings giftige Schlangen: Wanderschuhe sind also Pflicht. Und man sollte unbedingt gegen Tollwut geimpft sein. Das ist eine tödliche Krankheit, die auf Java unter anderem von Fledermäusen übertragen wird. Es kann nämlich immer einmal sein, dass man bei der Suche Fledermäuse aufscheucht. Außerdem wimmelt es in Java in der Regenzeit nur so von Moskitos. Deshalb sollte man auch Malaria-Medikamente einpacken.
Was war das besondere an dem Fund?
Zwar werden immer wieder einmal einzelne Schneckenarten entdeckt. Aber es ist schon eine kleine Sensation, dass wir auf einer so gut erforschten Insel wie Java gleich 16 neue Arten gefunden haben. Vorher dachte man nämlich, dass zur Gattung Landouria maximal sieben Arten auf Java gehören. Meine Doktorandin Ayu Savitri Nurinsiyah hat dann aber schon bei ihren im Regenwald gesammelten Schnecken festgestellt, dass es mehr Landouria-Arten geben muss. Wir haben dann ihre Funde und die Funde aus mehreren Naturkunde-Museen anatomisch und genetisch untersucht. Dabei haben wir festgestellt, dass sich Landouria auf Java sogar in 28 Arten auffächert – was man in der Forschung „Radiation“ nennt.
Wie sind die neu entdeckten Schnecken nach Java gekommen?
Ursprünglich stammt Landouria aus Südostasien, wo diese Gattung vom Himalaya bis nach Thailand verbreitet ist. Von dort ist sie vermutlich nach Indonesien gelangt: entweder während der Eiszeiten, als Java mit dem Festland verbunden war oder sie wurde von Vögeln „eingeschleppt“. Ganz selten kann es nämlich vorkommen, dass eine Schnecke im Gefieder oder an den Beinen eines Vogels festklebt und dann als blinder Passagier mitfliegt. Es kann sogar vereinzelt passieren, dass Schnecken von Vögeln heruntergeschlungen werden und an einem anderen Ort lebendig wieder ausgeschieden werden. Durch Vögel sind Schnecken wahrscheinlich auch auf so entlegene Inseln wie Hawaii gekommen. Es gibt jedenfalls fast keinen Ort auf dieser Welt, an dem diese Weichtiere nicht leben.
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Fotos und Mikroskop-Aufnahmen der Raspelzunge der Schnecken
Überblick über die Weichtiersammlung (Schnecken, Würmer und mehr) der Universität Hamburg
Rote Liste der europäischen Landschnecken vorgestellt
Mehr als 20 Prozent der 2.469 Schneckenarten in Europa sind gefährdet – das zeigt die nun herausgegebene Rote Liste der IUCN (International Union for Conservation of Nature). Marco T. Neiber aus der Abteilung Malakologie der Universität Hamburg war an dem Bericht beteiligt. Für die aktuelle Rote Liste hat er als Mitautor Forschungsdaten eingebracht und in Workshops mit internationalen Kolleginnen und Kollegen den Report erarbeitet. In der Erhebung wurden – mit Ausnahme der Kaukasus-Region – der gesamte Kontinent sowie die heutigen 28 EU-Mitgliedsstaaten berücksichtigt. Knapp 22 Prozent der erfassten Arten sind aktuell in ihrem Bestand bedroht, als stark vom Aussterben gefährdet gelten 97 Schneckenarten, 90 Arten werden als gefährdet eingestuft. Fünf Schneckenarten von den Atlantik-Inseln Madeira und Porto Santo sowie von Inseln im Ägäischen Meer sind vermutlich ausgestorben. Mehr Informationen zum Bericht und zu den Ursachen der Bedrohung gibt es auf der News-Seite des CeNak.