„Mathematik ist auch etwas für Menschen mit 47 Chromosomen in jeder Zelle“Interview zur ausgezeichneten Lern-App „mathildr“
24. Juli 2019, von Anna Priebe
Foto: UHH/Saint Pere
Kinder mit Trisomie 21 haben besondere Ansprüche beim Rechnen lernen. Eine an der Universität Hamburg entwickelte App stellt sich der Herausforderung und macht so Inklusion möglich. Ein Gespräch mit den Erziehungswissenschaftlern und Entwicklern Prof. Dr. André Frank Zimpel und Torben Rieckmann.
Welche Auswirkungen hat Trisomie 21 auf das Lernen?
André Zimpel (AZ): Wir haben die weltweit größte Studie zu den Lernbesonderheiten von Menschen mit Trisomie 21 durchgeführt und konnten nachweisen, dass bei allen Menschen mit Trisomie 21 der Aufmerksamkeitsumfang halb so groß ist wie der von Menschen ohne Trisomie 21. Das gilt fürs Hören, Tasten und Sehen sowie für die Muskelwahrnehmung.
Kinder ohne Trisomie 21 erkennen auf den ersten Blick den Unterschied zwischen einem W und einem V. Kinder mit Trisomie 21 müssen dafür zweimal hinschauen. Für sie sind die Buchstaben auf den ersten Blick gleich. In der Schule treffen sie auf eine Kultur, die auf ihre Lernbedürfnisse nicht vorbereitet ist.
Was ist das Besondere an der von Ihnen entwickelten App?
Torben Rieckmann (TR): In der Regel werden Mengen als Punkte dargestellt und zu Fünfergruppen zusammengefasst. Wir mussten aber feststellen, dass es für Menschen mit Trisomie 21 schwer ist, diese Mengenbilder zu erlernen. Zum Beispiel ist es für sie eine Herausforderung, sieben und acht Punkte auseinander zu halten. Um die Unterschiede der geraden und ungeraden Zahlen deutlicher zu machen, haben wir Striche an den Punkten angebracht und sie gebündelt, indem die Striche zueinander neigen. Diese Bilder lassen sich als Kirschpaare gut veranschaulichen. Diese Zweierbündelungen helfen Lernenden mit Trisomie 21, eine Vorstellung von Zahlen und Mengen zu bekommen.
Die Paarung ist deshalb wichtig, weil Menschen mit Trisomie 21 nur zwei bis drei Elemente gleichzeitig verarbeiten können. Bei den meisten Menschen ohne Trisomie 21 sind es vier. Das wird in der App aufgegriffen, indem Mengen auf diese ganz bestimmte Art und Weise dargestellt werden, nämlich mit Zweierbündelungen. Die sind dann wiederum in einem Zehnerfeld angeordnet. Wenn wir zum Beispiel die Menge sieben darstellen, dann zeigen wir drei Kirschpaare und eine einzelne Kirsche.
Was können die Kinder mit der App lernen?
TR: Die Kinder entwickeln die mentale Mengenbilder und können dann anfangen zu rechnen. Die App ist auf die Grundrechenarten Addition und Subtraktion ausgelegt.
AZ: Dabei funktioniert die App ein bisschen wie ein Taschenrechner. Die Kinder schreiben im Heft, können über die Anwendung aber das Rechenprinzip visualisieren und verstehen. Die Verbildlichung der Mengen passiert dann nach längerer Anwendung unbewusst.
TR: Begleitend gibt es noch Material aus Holz, Würfel und Lernkarten, um die erlernten Mengenbilder auch abseits der App anzuwenden.
Wie haben Sie Kinder mit Trisomie 21 in die Entwicklung einbezogen?
TR: Wir haben regelmäßig mit mehr als 20 Personen mit Trisomie 21 unterschiedlichen Alters gearbeitet und uns immer wieder direktes Feedback geholt. Insgesamt hat die Entwicklung mehr als zwei Jahre gedauert. Das betraf sowohl die Funktionen der App als auch die grafische Gestaltung. Da auch Jugendliche und Erwachsene die App nutzen sollen, war es mir sehr wichtig, dass die Darstellung nicht zu kindlich wird. Aber trotzdem sollte die Anwendung einen hohen Aufforderungscharakter haben.
AZ: Wir haben es ja mit Kindern zu tun, die von Mathematik sehr frustriert sind. Wir möchten, dass die Menschen die Aversionen überwinden. Und unsere Ergebnisse zeigen: Mathematik ist auch etwas für Menschen mit 47 Chromosomen in jeder Zelle – man muss nur die Barriere wegräumen.
Wie und wo wird die App heute eingesetzt?
AZ: Die App kann kostenlos heruntergeladen werden. Inzwischen ist sie sogar in der Schweiz und in Bolivien im Einsatz.
TR: Wir arbeiten auch gezielt mit Schulen zusammen, aber leider wir können nicht alle Nutzer begleiten. Wir machen daher zentrale Workshops und auf der Website findet sich viel Material auf Deutsch und Englisch. Eine festgelegte Altersgruppe gibt es dabei übrigens nicht. Meist wird sie ab der ersten Klasse eingesetzt. Ich kenne aber auch Erwachsene, die mit der App arbeiten.
Wie soll es mit der App weitergehen?
TR: Die App wird ständig weiterentwickelt und verbessert. Grundsätzlich können solche Anwendungen Menschen mit Trisomie 21 auch in anderen Bereichen helfen. Die Digitalisierung kann hier sicher zur Inklusion beitragen, da man mit Apps wie dieser einen individualisierten Unterricht durchführen kann.
Zu guter Letzt: Warum heißt die App eigentlich „mathildr“?
TR: Wir brauchten einen schönen Namen – und in diesem steckt „math“ (engl. Mathe) drin. Das „r“ am Ende ist angelehnt an andere Anwendungen wie Flickr und Tumblr.
Auszeichnungen für „mathildr“
Die App „mathildr“ ist bereits mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet worden. Beim Cornelsen Zukunftspreis erzielte Torben Rieckmann mit „mathildr“ im März 2018 den mit 3000 Euro dotierten 3. Platz. Im Juni 2019 wurde der gemeinnützige Verein „Guter Unterricht für alle e.V.“, der die Entwicklung der App unterstützt, mit dem ersten Platz des Niedersächsischen Inklusionspreises ausgezeichnet. Außerdem erhielt die App das Comenius-EduMedia-Siegel 2019. Mehr Informationen zur App und zur Nutzung.