Selbst bestimmt oder sich selbst überlassen?Vergleichende Studie zur Eigenverantwortung in Wohlfahrtsstaaten
14. Mai 2019, von Anna Priebe
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Soziale Absicherung durch den Staat oder eine Verpflichtung der Bürgerinnen und Bürger, selbst vorzusorgen? Ein Forschungsprojekt an der Universität Hamburg hat untersucht, wie Eigenverantwortung in drei europäischen Ländern umgesetzt wird und was das für die jeweilige Armutsentwicklung bedeutet.
Arbeitsminister Hubertus Heil forderte im April 2019, Selbstständige sollten zukünftig verpflichtet werden, für das Alter vorzusorgen. Welche Rolle die Bürgerinnen und Bürger bei ihrer sozialen Absicherung haben, wird von den Parteien traditionell sehr unterschiedlich gesehen. „Seit den 90er- Jahren dominieren in Deutschland, aber auch auf europäischer Ebene, neoliberale Ideen, denen zufolge die Bürgerinnen und Bürger immer mehr Verantwortung übernehmen sollten“, erklärt Prof. Dr. Birgit Pfau-Effinger, Professorin für Soziologie an der Universität Hamburg.
Angleichung in Europa?
Gemeinsam mit ihrem Forschungsteam hat Pfau-Effinger im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes untersucht, wie verschiedene Ländern speziell in den Bereichen Arbeitslosenpolitik und Pflege die geforderte Eigenständigkeit konkret umgesetzt haben. „Die These war, dass sich die Situation in Europa in den vergangenen Jahrzehnten angeglichen hat und überall mehr soziale Vorsorge von den Bürgerinnen und Bürgern selbst organisiert werden muss“, so die Wissenschaftlerin.
Dafür muss man wissen, dass die Theorie zu Wohlfahrtsstaaten verschiedene sogenannte Regimes unterscheidet. Zum einen gibt es das sozialdemokratische Regime, das in der Studie von Dänemark repräsentiert wurde. Es beruht auf der Idee, dass alle Bürgerinnen und Bürger Anspruch auf sozialpolitische Leistungen haben. „Diese Politik ist sehr großzügig angelegt und die Leistungen orientieren sich am Lebensstandard der Mittelschicht“, so Pfau-Effinger. Auf der anderen Seite gibt es etwa in England das liberale Wohlfahrtsregime. „Dieser Typ ist so ausgerichtet, dass wesentliche Leistungen der sozialen Sicherung auf den Markt oder in die Familien verlagert sind“, erklärt die Soziologin. Deutschland als drittes Land der Studie entspricht dem sogenannten konservativen Typ des Wohlfahrtsregimes. Dieser beruht im Wesentlichen auf einem Sozialversicherungssystem, sagt Pfau-Effinger: „Wir zahlen in Versicherungen ein und je mehr wir eingezahlt haben, desto mehr bekommen wir heraus.“
Was bedeutet Eigenverantwortung?
Viele Staaten haben sich in den vergangenen Jahrzehnten von diesen Idealtypen entfernt. Das Forschungsteam hat sich nun angeschaut, wie die Eigenverantwortung in den Sozialgesetzen geregelt ist, also welche Ansprüche die Menschen haben und was dafür von ihnen erwartet wird.
Tatsächlich fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den drei Regimen zwei sehr unterschiedliche Umgänge mit Eigenverantwortung: In England wurden sowohl die Arbeitslosenversorgung als auch die Altenpflege den Bürgerinnen und Bürgern weitgehend selbst überlassen. Dänemark setzt dagegen in beiden Bereichen auf starke finanzielle und auch organisatorische Unterstützung vom Staat. „Es gibt viele Angebote und die Menschen können entscheiden, was sie nutzen möchten“, so Pfau-Effinger. Und Deutschland? Hier finden sich beide Arten: Während in der Arbeitslosenpolitik zum Beispiel erwartet wird, dass Betroffene erst ihre Ersparnisse ausgeben, bevor sie Anspruch auf Leistungen wie das Arbeitslosengeld 2 („Hartz 4“) erwerben, gewährleistet die Pflegepolitik, dass die Grundpflege öffentlich finanziert ist. „Die erwartete Angleichung über die Jahrzehnte hat aus unserer Sicht nicht stattgefunden“, bilanziert Pfau-Effinger.
Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt
Das gilt auch für das Armutsrisiko. Während es in Dänemark, das seine Bürgerinnen und Bürger stark unterstützt, vergleichsweise niedrig ist, ist es in Deutschland und vor allem in England deutlich stärker ausgeprägt. „Der sozialdemokratische Typ vermeidet Armut und führt zu einer relativen sozialen Angleichung, während der Typ des liberalen Regimes die Bürgerinnen und Bürger sich selbst überlässt und Armut als ein Wirken des freien Marktes in Kauf nimmt“, so Pfau-Effinger.
Es gehe in der Forschung nicht darum, zu sagen, was zukünftig passieren muss, sondern zu schauen, was momentan passiere. Die Hamburger Soziologin betont: „Wir sehen in unseren Analysen gerade große Veränderungen im sozialen Zusammenhalt. Der Wohlfahrtsstaat und seine Ausgestaltung können bei der Bewältigung eine wichtige Rolle spielen.“
Publikation
Die Ergebnisse wurden im Fachmagazin „American Behavioral Scientist“ veröffentlicht:
Eggers, T., Grages, C., & Pfau-Effinger, B. (2019). Self-Responsibility of the “Active Social Citizen”: Different Types of the Policy Concept of “Active Social Citizenship” in Different Types of Welfare States. American Behavioral Scientist, 63(1), 43–64. https://doi.org/10.1177/0002764218816803
Die Forschung ist Teil des Projektes „FAMICAP – Institutionelle Rahmung familialer Pflege zwischen Marktlogik und Familiensolidarität“, das von 2014 bis 2017 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wurde. Auch andere Forschungsarbeiten sind eingeflossen.