Chancengerechtigkeit – Alltag oder Ausnahme?
27. März 2019, von Viola Griehl
Foto: UHH/Ohme
Mehr Chancengerechtigkeit im deutschen Bildungssystem, das hat im Januar gerade erst die Deutsche UNESCO-Kommission bei der Vorstellung des Weltbildungsberichts gefordert. Am 28. März befasst sich eine Tagung an der Universität Hamburg mit dem Thema. Fragen an den Organisator und Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Thomas Trautmann.
Herr Professor Trautmann, wie ist es um die Chancengerechtigkeit in der Bildung in Deutschland bestellt?
Es wäre plakativ, einfach mit gut oder schlecht zu antworten. Viele Kinder partizipieren an den Bildungsangeboten und wachsen gut und behütet auf. Aber vielen – aus meiner Sicht zu vielen – Heranwachsenden bleiben wichtige Bildungschancen verwehrt, u.a. weil sie in finanzielle Armut hineingeboren werden, im falschen Stadtteil wohnen, erst seit kurzem in Deutschland sind oder ihre Eltern in drei, vier prekären Arbeitsverhältnissen jobben und keine Zeit für die Kinder, für kulturelle Bildung oder die Anmeldung in der Bücherhalle aufbringen können.
Worum geht es bei der Tagung?
Die Tagung will Lehrpersonen, Schulleitungen und allen, die Unterstufen koordinieren, sowie Interessierten zeigen, was aktuell geforscht wird, und existierende Projekte als best-practice-Modelle vorstellen. Die Tagung ist übrigens die erste dialogische Nord-Süd-Tagung zwischen der Universität Hamburg und der Ludwig-Maximilians-Universität München. Uns geht es darum zu prüfen, ob das, was in München gut funktioniert, auf Hamburg übertragen werden kann und umgekehrt. Beide Städte haben interessante Projekte, die aber regional beschränkt bleiben. München kann von unserem Netzwerk „Weichenstellung“ lernen, in dem Viertklässlerinnen und Viertklässler von studentischen Mentorinnen und Mentoren begleitet werden mit dem Ziel eines erfolgreichen Übergangs aufs Gymnasium oder die Stadtteilschule. Wir schauen uns von den Bayern ihre guten Konzepte bei Bildungsbenachteiligung ab.
Welche Kinder haben am meisten mit Chancenungerechtigkeit zu kämpfen?
Die Frage nach „meist“ oder „minder“ trifft das Problem nur ungenügend, weil die Bezugsebenen unklar bleiben. Wir sollten auch die Akteure nicht gegeneinander ausspielen. Es gibt ebenso Wohlstandsverwahrlosung wie das Aufwachsen in höchst schwierigen Familienkonstellationen.
Grundsätzlich sollte man immer individuell schauen, wo unsere Hilfe und Fürsorge ansetzen kann, ohne die Kräfte des Kindes selbst zu lähmen. Es ist ja kein Klischee, dass Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund in die Schule kommen, die zu Hause kein Deutsch sprechen, nie in der Kita waren und im Wohngebiet ausschließlich mit Gleichaltrigen aus demselben Kulturkreis spielen. Dass diese Kinder es unglaublich schwer haben, ist nachvollziehbar. Aber unter Umständen braucht z. B. auch ein Mädchen aus einem scheinbar finanziell gut gestellten Haushalt viel Selbstbewusstsein, weil es zwar viel Spielzeug und Verwöhnung erhält, eines jedoch nicht bekommt: Zeit mit seinen Eltern, weil beide hart und viel arbeiten und so zu seltenen Besuchern in der eigenen Wohnung werden. Beides sind völlig unterschiedlich gelagerte Fälle von Chancenungerechtigkeit.
Welches sind die Hauptursachen dafür?
Tatsächlich gibt es ein unglaubliches Konvolut unterschiedlicher, sich kumulierender und sich mitunter scheinbar widersprechender Ursachenbündel. Und diese Bündel (die letztlich das Kind tragen muss) sollten sehr individuell und sorgsam betrachtet werden. Isolierte Schuldzuschreibungen wie Geschlecht, Wohnort oder Migrationshintergrund nützen da allein wenig.
Welche Impulse erhoffen Sie sich von der Tagung?
Alles, was Kindern in schwierigen Lebensverhältnissen helfen kann, zu bündeln – das wäre schon ein erster Schritt. Wir wollen das Bewusstsein dafür schärfen, dass aus Sicht der Forschung trotz PISA-Leistungstests und Rahmenprogramm des Bundesbildungsministeriums eben noch kein durchgreifender gesellschaftlicher und bildungspolitischer Verbesserungsprozess gegriffen hat. Außerdem erhoffe ich mir idealerweise Nachahmung durch den Austausch über best practice-Beispiele. Die Tagung soll dazu beitragen, die Zivilgesellschaft zu ermutigen, dass es sich lohnt, für Chancengerechtigkeit einzutreten, unabhängig davon, welchen Ansatz für Inklusion man betrachtet.
Weitere Informationen
Die Tagung „Chancengerechtigkeit durch Schul- und Unterrichtsentwicklung an Grundschulen“ wird von der ZEIT-Stiftung unterstützt und fand parallel bereits an der Ludwig-Maximilians-Universität München statt. Ein begleitender Tagungsband mit Beiträgen namhafter Expertinnen und Experten wird den Teilnehmenden kostenlos zur Verfügung gestellt. Darin wird nicht nur der Stand der Ursachenforschung dargestellt, sondern sowohl die gesellschaftlichen Zugänge als auch die unterschiedlichen Forschungsresultate beleuchtet. Außerdem bietet der Band konkrete Projektbeschreibungen, die dabei helfen sollen, in der Schule, der Kita oder in außerschulischen Kontexten aktiv werden zu können.
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