Neue Studie:Müssen Fossilfunde zukünftig anders interpretiert werden?5 Fragen an den Zoologen Prof. Dr. Thomas Kaiser
4. Januar 2019, von Anna Priebe

Foto: pixabay.com/violetta
Die Zahnabnutzung kann Aufschluss über die Ernährungsweisen und Lebensräume ausgestorbener Wirbeltiere geben. Eine im Fachmagazin „PNAS“ erschienene Studie unter Beteiligung der Universität Hamburg zeigt, welche Eigenschaften von Pflanzen für die Abnutzung ausschlaggebend sind. Prof. Dr. Thomas Kaiser vom Centrum für Naturkunde über die Bedeutung der Erkenntnisse.
Was verraten uns Zähne über ausgestorbene Tierarten?
Wenn wir die Biologie und Evolution fossiler Säugetiere und Vormenschen rekonstruieren wollen, haben wir nur wenige Hinweise – und einer davon sind die Spuren, die wir auf den Zähnen finden. Sie überdauern Jahrmillionen und zusammen mit Knochen sind das meist die einzigen Funde. Die Zahnoberflächen sind Indikatoren, die uns Auskunft geben über das, was gegessen wurde, und damit über die Lebensraumbedingungen.
Das funktioniert aber nur, wenn wir verstehen, wie diese Spuren entstanden sind. Wir wissen grundsätzlich, dass dafür Partikel verantwortlich sind, die mit der Nahrung aufgenommen werden.
Welchen konkreten Aspekt haben Sie in der aktuellen Studie untersucht?
Wir wollten wissen: Welchen Anteil hat der Lebensraum am Zahnabrieb, zum Beispiel durch Staub auf der Nahrung, und was ist der Beitrag der Nahrungspflanze und ihrer Bestandteile. Dazu mussten wir Experimente durchführen und – das hat bisher niemand gemacht – systematisch den Staub von den Oberflächen der Pflanzen abwaschen, um zu sehen, welche Spuren die Pflanze selbst verursacht.
Wir haben Meerschweinchen als Modellorganismen herangezogen, weil die als Pflanzenfresser ein sehr breites Nahrungsspektrum haben. Wir haben sie mit Luzerne, Gras und Bambus gefüttert – Pflanzen, die unterschiedlich viel Siliziumdioxid, sogenannte Phytolithe, enthalten. Das ist der Bestandteil der Pflanze, der die Zähne abschleift.
Weil Lebensräume immer sehr stark von der Wasserverfügbarkeit geprägt werden, haben wir auch untersucht, welche Auswirkungen es hat, ob die Pflanzen im trockenen oder feuchten Zustand gegessen werden.
Welche neuen Erkenntnisse konnten Sie gewinnen?
Durch das systematische Füttern und die anschließenden 3D-Vermessungen der Zahnoberflächen, die hier in Hamburg in unserem Texturlabor stattgefunden haben, konnten wir zeigen, dass Pflanzen mit hohem Phytolith-Gehalt, wie Gras zum Beispiel, die Zähne stärker abnutzen als etwa Luzerne (eine Nutzpflanze, Anmerk. d. Red.), die ähnlich wenig Phytolithe enthält wie Blätter.
Zudem macht es einen Unterschied, ob das Gras getrocknet oder frisch war. In einer Studie im vergangenen Jahr haben wir bereits herausgefunden, dass Phytolithe, die aus frischem und damit feuchterem Gewebe kommen, weicher sind als entsprechende Partikel aus trockenem Pflanzenmaterial. In unserem Experiment nutzte frisches Gras die Zähne tatsächlich weniger stark ab als trockenes. Eigentlich kann man anhand der Texturen – so nennen wir die Spurenmuster auf den Zähnen – gar nicht zwischen jungem frischem Gras und Blattnahrung wie Luzerne unterscheiden.
Was bedeutet das?
Die Unterscheidung zwischen einer Wald-Art und einer Savannen-Art – um das mal ganz pauschal auszudrücken – ist natürlich nur möglich, wenn wir anhand von Zahntexturen auch ablesen können, wie viel Gras- und wie viel Blattnahrung aufgenommen wurde. Wenn wir jetzt aber feststellen, dass Gras sich unter Umständen genauso verhalten kann wie Blattnahrung, dann bedeutet das, dass dieses Signal nicht so funktioniert, wie wir uns das vorgestellt haben.
Im Grunde müssen wir die Anwendung unserer Methoden daraufhin untersuchen, ob es reicht, den Silikat- bzw. Phytolith-Gehalt zu messen oder ob wir doch – und das ist das Spannende – viel eher schauen müssen, wie trocken eigentlich die Nahrung war. Es macht einfach einen großen Unterschied, ob eine Art im blätterreichen Wald lebte und Wasser in der Nähe war oder ob sie die Savanne bevölkerte. Die Ressourcen waren völlig andere.
Wie geht es jetzt weiter?
Die Studie zwingt dazu, die Interpretation dieses Markers, der so wichtig ist, zu überdenken und möglicherweise völlig neu auszurichten. Das wird schon dazu führen, dass man sich auch alte Fossilfunde sehr früher Menschen und Vormenschen noch einmal neu anschaut und sich dadurch möglicherweise eine ganz neue Perspektive für die Rekonstruktion der menschlichen Evolution eröffnet.
Weitere Informationen zur Studie
An der Studie waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Hamburg, der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, der Klinik für Zoo-, Heim- und Wildtiere der Universität Zürich, der Universität Gent sowie des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig beteiligt.
D. E. Winkler, E. Schulz-Kornas, T. M. Kaiser, A. De Cuyper, M. Clauss, T. Tütken (2019): Forage silica and water content control dental surface texture in guinea pigs and provide implications for dietary reconstruction. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS), 3. Januar 2019:: https://doi.org/10.1073/pnas.1814081116