Materiewellen im Raketenlabor
18. Oktober 2018, von Heiko Fuchs
Foto: Stephan Seidel
Die Erforschung von Materiewellen und die Durchführung von über 100 Experimenten im Weltall: Das war die Mission der Forschungsrakete MAIUS-1, die unter Beteiligung eines Forschungsteams um Prof. Dr. Klaus Sengstock, Sprecher des Exzellenzclusters „The Hamburg Centre for Ultrafast Imaging“ der Universität Hamburg, vor einem Jahr ins Weltall geschossen wurde. In der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins „Nature“ berichten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun über die ersten Ergebnisse dieser komplexen Raketenmission, in der sie erstmalig auch Bose-Einstein Kondensate im Weltall erzeugen und untersuchen konnten. Die Resultate der Mission könnten neue Ansatzpunkte für die Beantwortung grundlegender physikalischer Fragen liefern, aber auch die Entwicklung von satellitenunabhängigen Navigationssystemen vorantreiben.
Das Bose-Einstein-Kondensat ist ein extremer Zustand von Atomen nahe dem Temperatur-Nullpunkt, bei dem sich Materie wie eine Welle verhält. Neben der Erzeugung des Bose-Einstein-Kondensats konnte die Kollaboration der Universitäten Hannover, Berlin, Bremen, Darmstadt, Mainz, Ulm und Hamburg mit Hilfe der in Hamburg entwickelten glaskeramischen Präzisionsoptiken die Physik dieser ultrakalten Atomwolken unter Schwerelosigkeit genau untersuchen. Auf der Erde bleiben für die Untersuchungen des Bose-Einstein-Kondensats und der Materiewellen nur wenige Millisekunden, bevor die Schwerkraft die Atomwolke auf den Boden zieht. In der Schwerlosigkeit des Weltalls konnten die Untersuchungsobjekte mehrere Sekunden lang erforscht werden.
Weltraumtaugliche Versuchsaufbauten
„Die Anforderungen, um ein optisch gesteuertes Quantengasexperiment auf einer Rakete durchzuführen, sind immens“, betont Dr. Ortwin Hellmig, der die Projektleitung am Zentrum für Optische Quantentechnologien (ZOQ) der Universität Hamburg übernommen hatte. Im Laserlabor müssen normalerweise schon bei minimalen Temperaturänderungen (z. B. 0,5 Grad Celsius) die empfindlichen Optikbausteine nachjustiert werden. Im Raketenlabor waren die Versuchsaufbauten so konstruiert, dass sie Temperaturschwankungen von zehn Grad Celsius, starken Vibrationen und einer zwanzigfachen Erdbeschleunigung trotzen konnten. Nach dem extrem fordernden Aufstieg in 250 Kilometer Höhe konnten die mehr als 100 Experimente innerhalb von 6 Minuten ungestört von der Schwerkraft durchgeführt werden. Die Versuche liefen teilweise automatisch in der Rakete ab, einige wurden per Fernsteuerung von der Erde aus kontrolliert. Mit den ersten Ergebnissen können nun Strategien entwickelt werden, um zukünftige Weltraumexperimente am Boden schneller und besser vorzubereiten.
Ähnliche Experimente starten bald auch auf der ISS
Die nun veröffentlichten Ergebnisse sind auch für die amerikanische Raumfahrtbehörde NASA von Interesse. Sie hat im Mai das „Cold Atom Lab“ auf die Internationale Raumstation ISS gebracht, um dort ähnliche Experimente durchzuführen. „Weltweit hat unser Experiment großes Interesse für unsere Optik geweckt“, erläutert Prof. Dr. Klaus Sengstock und fügt hinzu: „Gerne unterstützen wir den weltweiten Bedarf an höchstpräziser Optik mit unserer Expertise, welche wir im Rahmen dieses Projektes gewonnen haben.“
Ausblick auf zukünftige Arbeiten
Bisher ist erst ein Bruchteil der Ergebnisse ausgewertet. Als Nächstes konzentrieren sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Kollaboration auf die Experimente zur Interferometrie der Materiewellen, also der Messung, wie sich mehrere Wellen überlagern. Sie gelten gegenwärtig als der vielversprechendste Ansatz für Messungen mit unerreichter Genauigkeit. Damit werden zukünftig beispielsweise die sehr präzise Vermessung des Gravitationsfeldes der Erde oder die Entwicklung genauerer und satellitenunabhängiger Navigationsgeräte möglich. Aber auch grundlegende Fragen der Physik, etwa zur Relativitätstheorie Albert Einsteins, wollen die Forscherinnen und Forscher überprüfen.
Bislang galten solche Forschungsmissionen aufgrund der Komplexität der Experimente und der bei einem Raketenstart und im All herrschenden extremen Anforderungen als nicht durchführbar. „Mit der MAIUS-1 konnten wir nun sogar während der Brennphase der Raketenstufen Experimente durchführen“, betont Hellmig.
Original-Publikation
D. Becker, M. D. Lachmann, S. T. Seidel, H. Ahlers, A. N. Dinkelaker, J. Grosse, O. Hellmig, H. Müntinga, V. Schkolnik, T. Wendrich, A. Wenzlawski, B. Weps, R. Corgier, T. Franz, N. Gaaloul, W. Herr, D. Lüdtke, M. Popp, S. Amri, H. Duncker, M. Erbe, A. Kohfeldt, A. Kubelka-Lange, C. Braxmaier, E. Charron, W. Ertmer, M. Krutzik, C. Lämmerzahl, A. Peters, W. P. Schleich, K. Sengstock, R. Walser, A. Wicht, P. Windpassinger, and E. M. Rasel (2018): Space-borne Bose-Einstein condensation for precision interferometry, Nature. DOI: https://doi.org/10.1038/s41586-018-0605-1
Bose-Einstein-Kondensat
Um ein Bose-Einstein-Kondensat zu erzeugen, wird eine Wolke von Atomen in mehreren Schritten bis nahezu zum absoluten Temperatur-Nullpunkt heruntergekühlt, so dass die Bewegung der Atome beinahe zum Stillstand kommt. Die Atome erreichen dabei einen für Nicht-Physikerinnen und -Physiker schwer vorstellbaren Aggregatzustand, der nicht mehr alleine mit klassischen Größen wie fest, flüssig oder gasförmig beschrieben werden kann. Sie verlieren ihre Eigenständigkeit und nehmen einen makroskopischen Wellenzustand ein, der ähnliche Eigenschaften hat wie die Laserstrahlung im Falle elektromagnetischer Wellen. Theoretisch wurden sie bereits in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Nathan Bose und Albert Einstein vorhergesagt, aber erst 1995 experimentell in kalten Gasen realisiert.
MAIUS-1
Der Name MAIUS steht für: MAteriewellen-Interferometer Unter Schwerelosigkeit. Die MAIUS-1 Forschungsraketen-Mission ist ein Kooperationsprojekt der Universität Hamburg, der Humboldt-Universität Berlin, des Ferdinand-Braun-Instituts in Berlin, des Zentrums für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation in Bremen, der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, der Leibniz Universität Hannover, der Universität Ulm, der Technischen Universität Darmstadt und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt. Gefördert wird die Mission mit Mitteln des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie.