Neue Emmy Noether-GruppeMit künstlicher Intelligenz auf der Jagd nach neuen Elementarteilchen
22. August 2018, von Heiko Fuchs
Foto: UHH/MIN/Fuchs
Das Higgs-Boson verleiht den Elementarteilchen ihre Masse und wurde in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts theoretisch vorhergesagt. Seitdem wurde es in einer Art Rasterfahndung in verschiedenen Experimenten immer wieder gesucht. Es dauerte allerdings eine Weile, bis 2012 am europäischen Kernforschungszentrum CERN erstmals ein Teilchen gefunden wurde, bei dem es sich um das gesuchte Higgs-Boson handelte. Am Fachbereich Physik der Universität Hamburg ist jetzt eine neue Emmy Noether-Nachwuchsgruppe gestartet, die mit Hilfe von künstlicher Intelligenz (KI) nach bisher unbekannten Teilchen sucht, die beim Zerfall von Higgs-Bosonen am CERN entstehen könnten. Leiter dieser Forschergruppe ist Junior-Professor Dr. Gregor Kasieczka.
Woran forschen Sie in Ihrer Emmy Noether-Nachwuchsgruppe genau?
Wir machen Datenanalysen von Ereignissen, die man mit dem CMS-Experiment (Compact-Muon-Solenoid-Experiment) am CERN in Genf aufnimmt. Das CMS-Experiment ist ein gemeinsames Projekt von vielen tausend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die mit Hilfe des Multifunktionsdetektor CMS die Eigenschaften des Higgs-Bosons untersuchen und nach neuen Teilchen suchen. Unser Ansatz dabei ist, dass wir direkt nach Signalen von physikalischen Phänomenen suchen, die man zwar theoretisch vorhersagen kann, von denen man aber nicht weiß, ob sie überhaupt existieren. Diese Vorhersagen stammen aus neuen physikalischen Theorien, die manche Eigenschaften der Natur besser erklären als vorhandene Theorien, und diese sagen, ähnlich wie vor 60 Jahren beim Higgs-Boson, die Existenz von neue Teilchen vorher. Nach diesen neuen Teilchen suchen wir.
Welche Teilchen sind das?
Ich habe mir da etwas recht Exotisches herausgesucht, die sogenannten langlebigen Teilchen. Normalerweise hat man am CERN Proton-Proton-Kollisionen, bei denen Teilchen entstehen, die sehr kurzlebig sind und dann zerfallen. Die Zerfallsprodukte fliegen nach außen und werden in dem 15 Meter hohen Detektor gemessen. Meine Emmy Noether-Gruppe beschäftigt sich mit der Frage: Was passiert, wenn die bei der Kollision entstandenen Teilchen langlebig sind? Wenn sie zum Beispiel zehn Zentimeter fliegen und erst dann zerfallen.
Wie gehen Sie dabei vor?
Wir verwenden Computer-Algorithmen, sogenannte Rekonstruktionsalgorithmen, um in den Messdaten vom CERN neuartige Teilchen zu entdecken. All unsere Rekonstruktionsalgorithmen sind aber darauf trainiert, etwas zu finden, dass in der Nähe des Mittelpunkts des Detektors zerfällt. Wenn das Teilchen erst deutlich später zerfällt, wird es nicht erfasst.
Ziel meiner Emmy Noether-Gruppe ist die Suche nach Teilchen, die irgendwo im Detektor zerfallen, aber nicht im Mittelpunkt. Dazu muss man sich ganz genau ansehen, wie die Rekonstruktionsalgorithmen funktionieren, denn bei der Berechnung der Spuren der Teilchen gehen die Algorithmen davon aus, dass die Spur in der Nähe des Detektormittelpunkts startet.
Wenn die Spur erst später startet, wird sie von dem Algorithmus als uninteressant eingestuft und weggeworfen. Aber genau das wären unsere gesuchten Teilchen und deshalb müssen wir die Spurrekonstruktion für verschiedene Teile des Detektors anpassen, weil sonst die Signaturen der langlebigen Teilchen im Rauschen untergehen oder als Detektorfehlfunktion gelöscht werden.
Sie benutzen bei der Suche nach den Teilchen spezielle Computer-Algorithmen, die jetzt noch angepasst werden müssen. Wie machen Sie das?
Wir entwickeln „Machine Learning“-Algorithmen und neuronale Netzwerke zur Lösung von spezifischen Problemen in der Teilchenphysik. Das sind Computer-Algorithmen, die aus Beispielen lernen, darin Muster und Gesetzmäßigkeiten erkennen und nach Abschluss der Trainingsphase selbständig das Erlernte anwenden können. Diese Entwicklung ist inspiriert von der Suche nach den neuen Teilchen, aber wir interessieren uns auch für die Frage, wie man Machine Learning allgemein in der Physik benutzen kann. Wir möchten also Computern Physik beibringen.
Sie möchten also eine Art künstliche Intelligenz oder einen Algorithmus entwickeln, der Ihnen zukünftig bei der Auswertung Ihrer Messdaten hilft?
Ich würde das gar nicht in die Zukunft formulieren, denn den ersten Schritt haben wir schon geschafft. Wir besitzen Algorithmen, die wir auf simulierte Daten unseres Detektors anwenden können und die uns eine Entscheidung geben, ob es sich bei den Messdaten um ein Teilchen der einen oder einer anderen Klasse handelt. An dem Punkt sind wir eigentlich schon. Jetzt geht es um Verbesserungen, um diese Algorithmen schneller trainierbar zu machen und ihnen noch mehr Leistungsfähigkeit zu geben.
Wie trainieren Sie den Algorithmus?
Der große Unterschied zum maschinellen Lernen wie z.B. in der Bilderkennung bei Google und Facebook ist, dass man dort zwar große Mengen an Bildern zur Verfügung hat, die aber immer noch erst von Menschen korrekt eingeordnet werden müssen. In der Teilchenphysik trainieren wir den Algorithmus mithilfe von Simulationsdaten, bei denen wir genau wissen, welcher physikalische Effekt simuliert wird.
Wir haben also die tolle Situation, dass wir eine fast unbegrenzte Menge an Simulationsdaten erzeugen können, mit denen der Algorithmus trainiert werden kann. Das Problem ist aber, dass bei Algorithmen, die nur mit Simulationsdaten trainiert wurden, der Übergang zu echten Messdaten potentiell gefährlich sein kann, weil es nur die Eigenschaften der Simulationsdaten gelernt hat, aber daran arbeiten wir gerade.
Heutige KI-Algorithmen, zum Beispiel bei der Kreditvergabe, geben Ergebnisse heraus, die zwar gut funktionieren, deren Entstehung für Menschen aber nicht mehr nachvollziehbar sind. Sehen Sie ähnliche Probleme für Ihre Forschung?
Da gibt es unterschiedliche Sichtweisen. Es gibt Kollegen, die möchten eine Black Box, die eine gute Leistung hat, aber wie sie zu der Entscheidung kommt, ist komplett egal. Es gibt das andere Lager, und da gehöre ich dazu, das sehr genau verstehen möchte, wo die Entscheidung herkommt. Wir haben dazu einen weiteren Forschungsantrag gestellt, denn wir möchten explizit Forschungen im Bereich der Entscheidungsfindung von den verwendeten neuronalen Netzwerken durchführen. Das ist für mich ein aktives Forschungsgebiet, um genauer zu verstehen, wie die Entscheidungen zustande gekommen sind.
Werden Physiker dann in absehbarer Zeit durch künstliche Intelligenzen ersetzt?
In der Physik und in der Wissenschaft allgemein sind künstliche Intelligenzen und Algorithmen immer nur Mittel zum Zweck, die kreative physikalische Fragestellung, was der Forschungsgegenstand ist und was man lernen will, kann nur vom Menschen kommen. Die Maschinen helfen uns aber dabei, die riesigen Mengen an Daten zu verarbeiten, um interessante Physik zu finden. Viele physikalische Entdeckungen der jüngsten Zeit, wie z.B. Gravitationswellen, wären ohne diese Unterstützung gar nicht möglich gewesen.
Die elektronischen Hilfsmittel erhöhen die Leistungsfähigkeit der einzelnen Wissenschaftlerin, des einzelnen Wissenschaftlers, sie ersetzen aber keine Menschen, sie helfen uns nur dabei, dass wir mit den eingeworbenen Fördermitteln möglichst viel forschen können.
Was könnten zukünftige Anwendungen Ihrer heutigen Forschungsarbeiten sein?
Die Entwicklungen von künstlichen Intelligenzen hat sicherlich ein sehr großes Anwendungspotenzial in vielen Bereichen. Das physikalische Hauptziel ist natürlich Erkenntnisgewinn. Die Suche nach neuen bisher unbekannten Teilchen ist eine sehr risikoreiche Forschungsarbeit, denn es kann durchaus passieren, dass man nichts findet und dann ist der Hauptbeitrag, dass man den Detektor verbessert hat und gezeigt hat, dass die neuen spezifischen Modelle nicht funktionieren.
Wenn wir aber etwas finden, dann wäre das eine riesengroße Entdeckung nicht nur für die physikalische Community, denn es gibt noch viele offene Fragen in der Natur und eine Entdeckung eines neuen Teilchens am CERN würde uns an vielen Fronten im Verständnis der Natur weiterbringen.
Zur Person:
Jun.-Prof. Dr. Gregor Kasieczka stammt aus Österreich, hat an der Technischen Universität Wien Physik studiert und promovierte danach an der Universität Heidelberg. Anschließend forschte er als PostDoc an den Interaktionen zwischen Top Quarks und dem Higgs-Boson an der ETH Zürich. Seit 2017 ist er Junior-Professor an der Universität Hamburg und leitet seit August 2018 eine Emmy Noether-Nachwuchsgruppe. Jun.-Prof. Dr. Kasieczka sucht nach neuen, hypothetischen Teilchen, die beim Zerfall von Higgs-Bosonen am europäischen Kernforschungszentrum CERN entstehen könnten.
Das Emmy Noether-Programm
Das Emmy Noether-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft eröffnet besonders qualifizierten Nachwuchswissenschaftlern die Möglichkeit, sich durch die eigenverantwortliche Leitung einer Nachwuchsgruppe über einen Zeitraum von sechs Jahren für eine Hochschulprofessur zu qualifizieren.