Bewegungen unter der ZeitlupeIm Interview: Prof. Dr. Clemens Wöllner
4. Juli 2018, von Viola Griehl
Foto: UHH/Wöllner
Ob uns die Zeit wie im Flug vergeht oder in Zeitlupe (Slow Motion), ist subjektiv und situationsabhängig – im Urlaub scheint die Zeit zu rasen, im Wartezimmer bei der Zahnärztin dagegen nur zäh zu vergehen. Doch Slow Motion ist auch Stilmittel in Filmen und Videoclips, in Konzerten oder bei Tanzdarbietungen, so dass das Publikum dadurch ganz unterschiedliche Zeitwahrnehmungen erleben kann. Wie sich gedehnte Zeit konkret auf Wahrnehmungs- und Handlungsprozesse auswirkt, das erforscht Prof. Dr. Clemens Wöllner vom Institut für Systematische Musikwissenschaft mit seinem Team in dem Projekt „Slow Motion: Transformations of Musical Time in Perception and Performance/SloMo“. Erste Ergebnisse des Projekts wurden gerade in der Fachzeitschrift PLOS ONE veröffentlicht.
Herr Professor Wöllner, Zeitlupe ist für die meisten Menschen ein optisches Phänomen, welche Rolle spielt Zeitlupe in der Musik?
Musik ist ja eine Zeitkunst, sie gestaltet unser Erleben von Zeit und sie agiert auf verschiedenen metrischen Ebenen: Wir können jedem Ton einer Melodie oder jedem Beat einzeln folgen, gleichzeitig nehmen wir auf einer höheren Ebene größere zusammenhängende Phrasen und Formabschnitte wahr. Wir können also gewissermaßen in die Musik hinein- und hinauszoomen.
Außerdem kann Musik das Zeitempfinden beeinflussen, wie bereits einige empirische Studien gezeigt haben. Die Zeit scheint beispielsweise schneller zu vergehen, wenn im Hintergrund schnelle und bekannte Musik gespielt wird.
Sie und Ihr Team haben in der ersten Projektphase die Wahrnehmung von Zeitlupen in audiovisuellen Medien u.a. anhand von Blickbewegungs-Analysen untersucht. Was konnten Sie feststellen?
In Spielfilmen, aber auch in Sportaufnahmen werden sehr häufig Zeitlupen eingesetzt. Wir haben die Hypothese aufgestellt, dass filmische Zeitlupen Alltagssituationen simulieren können, in denen die Zeit stehen zu bleiben scheint. Das ist ja manchmal in besonders emotionalen Momenten der Fall, denken Sie an ein Wiedersehen nach langer Zeit oder wenn jemand aus großer Höhe stürzt. Wir erleben dann den psychologischen Effekt der Zeitdehnung, weil in diesen Momenten unser Gehirn gewissermaßen auf Hochtouren läuft, besonders viele Informationen aufnimmt und verarbeitet. In Filmen wird dabei oft eindringliche Musik eingesetzt.
In unserer Studie konnten mein Team und ich zeigen, dass die Versuchsteilnehmenden bei Filmszenen in realer Geschwindigkeit physiologisch zwar stärker aktiviert waren und auch größere Pupillendurchmesser aufwiesen. Bei Zeitlupen gab es jedoch mehr Fixationen, also gezieltes Betrachten, und Sakkaden, das sind ruckartige Blicksprünge: Die Teilnehmenden konnten also mehr wahrnehmen und schätzten auch die emotionale Valenz, die Wertigkeit des Gesehenen, positiver ein.
Die Filmmusik hat das stark beeinflusst, indem sie im Vergleich zu Versuchsbedingungen ohne Musik bei den Zeitlupenbeispielen für höhere Aktivierung und Valenz sorgte. Ohne Musik würden manchen Zeitlupenszenen also schlichtweg weniger wirken.
In einem anderen Teilprojekt wollen Sie bei Musikerinnen bzw. Musikern sowie Tänzerinnen und Tänzern Bewegungsabläufe mit Hochgeschwindigkeitskameras erfassen und in Musik umsetzen. Wie funktioniert dieses Verklanglichen und warum machen Sie das?
In der Musik- und Tanzkunst, aber auch im Leistungssport dient Slow Motion der Übung komplexer Bewegungsabläufe. Unser SloMo-Forschungsprojekt verwendet eine Vielzahl an Methoden. Die Sonifikation oder Verklanglichung soll z. B. dazu führen, Bewegungsabläufe hörbar zu machen, so dass man mehr über die Bewegung erfährt als durch bloßes Sehen.
Dabei zeichnen wir dreidimensional mit unserem Motion-Capture-System die Bewegungen auf. Die so gewonnenen Daten werden dann Klängen oder Rhythmen zugeordnet. So übersetzen wir Bewegungsparameter in Klang. Beispielsweise kann sich die Klangfarbe ändern, wenn eine Bewegung flüssiger oder stockender umgesetzt wird. Die Ansätze dazu sind in der bisherigen Forschung aber eher intuitiv und noch nicht systematisch evaluiert worden.
Was passiert danach mit den Ergebnissen?
Die Sonifikation wird in verschiedenen Bereichen, z.B. auch bei OPs in der Medizin eingesetzt, vor allem, um kaum Sichtbares hörbar zu machen. Alle unsere Ergebnisse werden genau dokumentiert und publiziert. Die Grundlagen, die wir erforschen, können dann eine Vielzahl möglicher Anwendungen inspirieren, nicht nur bei Tanzperformances, sondern auch beispielsweise im Leistungssport und in der Rehabilitation.
Sie arbeiten zusammen mit der Hochschule für Musik und Theater und dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf auch an dem Forschungsprojekts „Healing Soundscapes“ – worum geht es dabei?
Das ist ein anderes Forschungsprojekt gemeinsam mit Komponisten, Musiktherapeuten und Medizinern. Die Atmosphäre in Kliniken ist oft nicht besonders ansprechend, auch für die Mitarbeitenden. Musik im Hintergrund kann das positiv beeinflussen. Dazu gibt es schon Pilotprojekte, beispielsweise im Herzzentrum des UKE.
Womit ist Ihr Team an dem Projekt beteiligt?
In erster Linie ist das ein Projekt im Sinne von forschendem Lernen. Unsere Studierenden erforschen die Wirkungen der Hintergrundmusik auf die beteiligten Personengruppen, beispielsweise auf die Frequenz und Tiefe der Atmung oder das Erleben von Stress.
Inwiefern unterscheiden sich „Healing Soundscapes“ von Fahrstuhl- oder Kaufhausmusik?
Das ist eine gute Frage, da hier ganz unterschiedliche Vorstellungen zusammenkommen. Es geht im UKE nicht darum, nur zu beruhigen oder eine Wohlfühlatmosphäre durch Musik zu schaffen. Die Musik soll einem gewissen Anspruch gerecht werden, also durch ihre Struktur und klangliche Gestaltung Assoziationen ermöglichen, auch zum Nachdenken anregen. Die Patienten, Angehörigen und Mitarbeiter sollen wach bleiben und ihr Umfeld bewusst wahrnehmen können.
Förderung durch Consolidator Grant
Das Projekt „Slow Motion: Transformations of Musical Time in Perception and Performance (SloMo)“ von Prof. Dr. Clemens Wöllner war 2016 bei der Förderlinie „Consolidator Grant“ des Europäischen Forschungsrats erfolgreich und erhält über eine Laufzeit von fünf Jahren rund 2 Millionen Euro. Mit dem „Consolidator Grant“ fördert der Europäische Forschungsrat exzellente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
Zur Projektseite: https://www.slomo.uni-hamburg.de