Wenn in der Forschung der Wurm drin istAn der Universität Hamburg gibt es die weltgrößte Regenwurmsammlung
27. März 2018, von Anna Priebe
Wo, wenn nicht in Hamburg, sollte sie sein, die weltgrößte Regenwurmsammlung? Sie ist Teil der Sammlung der Abteilung „Wirbellose Tiere I“ des Centrums für Naturkunde und steht exemplarisch für die weithin unterschätzte, sehr große Gruppe von Tieren, die allgemein als Würmer bezeichnet werden. Dabei halfen die Regenwürmer der Hamburger Sammlung einst, die Kontinentaldrift-Theorie Alfred Wegeners zu beweisen. Ein Besuch.
Auf dem Schreibtisch von Prof. Dr. Andreas Schmidt-Rhaesa stehen mehrere, rund vier Zentimeter große Plastikröhrchen, die jeweils mit einem Etikett versehen sind. Pro Röhrchen schaukelt ein Insekt in durchsichtiger Alkohollösung: „Das sind jetzt gerade ein paar schöne Objekte, die ich zum Fotografieren rausgestellt habe“, erklärt der Biologe. „Schön“ heißt in diesem Fall, dass dem Ohrenkneifer und der Heuschrecke ein Parasit aus dem Hinterteil ragt, der fast so lang ist wie sie selbst. Die Insekten wurden in Fallen gefangen – und die Würmer versuchten, das sterbende Tier zu verlassen, verendeten aber ebenfalls. Nun sind sie gemeinsam präpariert.
50.000 Objekte aus mehr als 25 Tiergruppen
Prof. Dr. Andreas Schmidt-Rhaesa ist Leiter der Abteilung „Wirbellose Tiere I“ des Centrums für Naturkunde – und damit Kurator der entsprechenden Sammlung, die genau solche Parasiten beherbergt. „Die Sammlung umfasst alle Tiere, die nicht Wirbeltiere, Weichtiere oder Gliedertiere sind“, beschreibt der 51-Jährige sein Inventar. „Positiv formuliert heißt das: Es fängt an mit Schwämmen, Nesseltieren und geht über viele verschiedene Wurmgruppen bis zu Moostierchen, Seescheiden und Stachelhäutern, also Seeigeln und Seesternen.“
Insgesamt rund 50.000 Objekte aus 25 Tiergruppen finden sich in den zwei Sammlungsräumen. Sie sind in Alkohol eingelegt und werden in Gläsern aufbewahrt, die in langen Regalreihen stehen. Die Tiere schrumpfen durch den Alkohol leicht zusammen und wirken mitunter gelblich. Dennoch zeigen die gesammelten Tiere auch nach Jahrzehnten noch die ganze Variabilität der Tiergruppen: Während die kleinsten Präparate knapp unter 100 Mikrometer, also einen Zehntel Millimeter, groß sind, hat das größte Präparat, ein Tiefseeschwamm, einen Durchmesser von 1,50 Meter.
Weltweit größte Regenwurmsammlung
Ein besonderes Teil des Bestandes ist die weltgrößte Regenwurmsammlung. „Von der Teilgruppe der sogenannten ‚Wenigborsten-Würmer‘, zu denen auch die Regenwürmer gehören, haben wir mehr als 4.200 Präparaten“, erklärt Schmidt-Rhaesa. 1.346 davon seien sogenannte Typenexemplare, also Tiere, anhand derer eine Art neu beschrieben wurde. Der Standort ist bei dem hiesigen Wetter doch kein Zufall, oder? „Die Sammlung geht weniger auf das Hamburger Wetter als auf ihren ersten Kurator Wilhelm Michaelsen zurück“, so Schmidt-Rhaesa. Der betreute die Sammlung, die nach der Gründung des Naturhistorischen Museum Hamburg 1843 eingerichtet wurde, von 1887 bis 1913 – und war fasziniert von Regenwürmern.
Er unternahm zahlreiche Forschungsreisen nach Südamerika, Südafrika und Australien und sammelte dort Regenwürmer sowie verwandte Arten der Gruppe Oligochaeta. „Er hat festgestellt, dass bestimmte Gattungen auf verschiedenen Kontinenten verteilt sind, obwohl sie sich ja eigentlich sehr schlecht verbreiten können“, erklärt Schmidt-Rhaesa. Mit diesen Erkenntnissen unterstützte Michaelsen Anfang des 20. Jahrhunderts die Kontinentaldrift-Theorie des Meteorologen und Geowissenschaftlers Alfred Wegener (1880–1930), die besagt, dass es früher mal einen Südkontinent gab, der dann aufgebrochen und auseinandergedriftet ist.
Regenwurm ist also nicht gleich Regenwurm. „Ich rede immer ein bisschen vereinfachend von Regenwurm, denn dann haben die Leute zumindest eine grobe Vorstellung“, sagt Schmidt-Rhaesa, „aber es gibt Hunderte, wenn nicht gar Tausende Arten.“ Die Abgrenzungsmerkmale sind dabei manchmal unscheinbar: „Sie unterscheiden sich zum Beispiel danach, in welchem Segment die Geschlechtsorgane ausmünden. Da werden dann die Segmente gezählt und bei der einen Art münden die in Segment 13 und bei der anderen in Segment 15 – so subtil können die Unterschiede manchmal sein.“ Auch im durchschnittlichen Hamburger Garten gehörten zehn gefundene Regenwürmer „mit ziemlicher Sicherheit nicht alle zu einer Art“.
Die Faszination liegt im Detail
Dass sich nicht jeder für diese Wurmdetails begeistern kann, ist Schmidt-Rhaesa bewusst: „Wenn wir hier die Lange Nacht der Museen haben und Führungen anbieten, dann ist es bei mir immer eher überschaubar, während sie sich bei den Wirbeltieren drängeln.“ Dabei seien die Tiere ungemein spannend. Würmer können beispielsweise Teile ihres Körpers komplett regenerieren, wenn Segmente etwa durch einen unglücklichen Spatenstich abgetrennt werden. „Man muss genauer hinsehen, ins Detail. Viele der Tiere sind zwar nur einen Zehntel Millimeter lang, haben aber alle Organe in perfekter Anpassung. Wenn man sich die Mühe macht, da genauer hinzugucken, dann ist das wirklich lohnenswert“, so der Sammlungskurator.
Er selbst forscht nicht zu Regenwürmern, sondern zu parasitären Saiten- und Priapswürmern. Zum einen beschäftigt er sich mit der Artbestimmung und Biodiversität innerhalb der Gruppen, zum anderen mit der Morphologie, also damit, wie sich bestimmte Organe und Organsysteme im Laufe der Zeit entwickelt haben. Und er erforscht, wie die Parasiten es schaffen, die landlebenden Wirt-Tiere dazu zu bringen, ins Wasser zu springen: „Die Würmer werden als Larven zum Beispiel von Mücken aus dem Wasser aufgenommen. Über diese Tiere, die von Heuschrecken oder Käfern gefressen werden, gelangen sie in den Wirt“, erklärt der Biologe. Dort entwickeln sie sich in ihr Endstadium, müssen aber zur Fortpflanzung wieder ins Wasser zurück. „Die Parasiten führen beim Wirt tatsächlich zu einer Verhaltensänderung, sodass der entgegen seines natürlichen Verhaltens ins Wasser springt; dann tritt der Parasit aus.“ Wie das passiert, dazu gibt es verschiedene Thesen, aber die Mechanismen sind weiterhin unklar. „Das ist genau das, worüber ich vorhin gesprochen habe: Sobald man die Tiere nur kennenlernt, ist man gefesselt.“
Spannende Fakten zu Regenwürmern
Historische Eingangsbücher
Die Sammlung „Wirbellose Tiere I“ besteht seit dem 19. Jahrhundert – und seitdem werden die sogenannten Eingangsbücher geführt. Jedes Objekt, das neu in die Sammlung kommt, wird dort vermerkt – mit Finderin oder Finder, Fundort und Objektbeschreibung. „Da bekommt das Objekt überhaupt erstmal eine Nummer, sodass wir immer die Beziehung zwischen Information und Objekt herstellen können“, so Kurator Prof. Dr. Andreas Schmidt-Rhaesa. Auch wenn heute alles zusätzlich digital erfasst wird, werden die Bücher weitergeführt. Um die Bücher langfristig zu erhalten, wurde der Eingangskatalog „Würmer I“ in diesem Jahr mit finanzieller Unterstützung der Arbeitsstelle für Wissenschaftliche Sammlungen restauriert und konserviert.