Macht Armut einsam?Prof. Dr. Petra Böhnke und Sebastian Link im Interview
19. Dezember 2017, von Viola Griehl
Foto: UHH/Dingler
Wenn Menschen in Armut geraten, verändern sich ihre sozialen Kontakte und sie nehmen weniger am gesellschaftlichen Leben teil. Das ist das Ergebnis einer Studie von Prof. Dr. Petra Böhnke und Sebastian Link vom Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg. Sie haben Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) analysiert und jetzt ihre Studie in der Zeitschrift „European Sociological Review“ veröffentlicht. Das SOEP erhebt seit 1984 immer bei denselben mehreren Tausend Haushalten Daten zu Einkommen, Erwerbstätigkeit, sozialen Beziehungen und beispielsweise Lebenszufriedenheit.
Frau Professorin Böhnke, laut Statistischem Bundesamt waren 2015 fast 13 Millionen Menschen in Deutschland von Armut betroffen. Wann gilt jemand als arm?
PB: Als einkommensarm gelten üblicherweise Personen, die weniger als 60 Prozent des Median-Einkommens zur Verfügung haben – das ist das Einkommen, das genau in der Mitte liegt, wenn man alle Einkommen aufsteigend ordnet. Die Schwelle zur Armut lag im letzten Jahr für einen Einpersonenhaushalt bei 969 Euro. Durch den Bezug zum Einkommen des Bevölkerungsdurchschnitts lässt sich ganz gut sehen, was man sich im Vergleich zu anderen leisten kann. Und daraus können auch ansatzweise Schlüsse gezogen werden, wie Personen am gesellschaftlichen Leben teilhaben.
Aber noch interessanter ist die Frage, wer wie lange arm ist. Die Befunde dazu zeigen, dass die Armutsdauer in den letzten Jahren angestiegen ist. Man kommt nicht mehr so schnell aus der Armut heraus. Das sagt aber noch nicht viel aus über die konkrete Lebenssituation armer Menschen. Deshalb ist es wichtig, die Folgen von Armut für andere Lebensbereiche zu untersuchen.
Herr Link, laut Ihrer Studie ist Armut nicht nur eine Frage, ob man sich bestimmte Dinge leisten kann, sondern es geht auch um die Abkopplung vom sozialen Leben. Welche sozialen Auswirkungen hat es auf den Freundeskreis, wenn eine Person verarmt?
SL: In Armut geratene Menschen treffen sich weniger als zuvor mit Freunden und Bekannten. Sie machen seltener Besuche oder empfangen seltener Gäste. Ihr Freundeskreis verändert sich. Zwar zählen in Armut geratene Menschen genauso viele Menschen zu ihrem Freundeskreis wie zuvor. Aber die Zusammensetzung ist anders. Nach längerer Zeit in Armut gehören beispielsweise weniger Menschen mit einem festen Arbeitsplatz dazu. Dadurch verringern sich die Möglichkeiten, wieder einen Weg aus der Armut heraus zu finden. Zum Beispiel, weil Informationen zu Jobangeboten fehlen.
Welche Rolle spielen Geschlecht oder Alter? Bleiben jüngere Leute heutzutage mithilfe der sozialen Medien besser sozial integriert, wenn sie von Armut betroffen sind?
SL: Auch für den Kontakt über soziale Medien braucht es geteilte Lebensinhalte. Die gehen mit den Jahren in Armut verloren, wenn die Lebenswelt beispielsweise durch Arbeitslosigkeit eine andere ist. Das Alter spielt unabhängig von der Einkommenssituation eine Rolle: Ältere Menschen haben mehr Kontakt zur Familie, weniger zu Freunden. Armutserfahrungen verstärken solche Muster.
Welche Rolle spielen die familiären Beziehungen von armen Menschen?
PB: Die Beziehungen, die arme Menschen zu ihrer Familie pflegen, sind stabiler: Unsere Analysen zeigen, dass sich die Betroffenen im Durchschnitt genauso häufig mit Familienmitgliedern treffen wie zuvor. Diese Beziehungen bilden ein starkes soziales Netz, das dafür sorgt, dass arme Menschen in der Regel nicht völlig sozial isoliert sind. Allerdings wissen wir auch, wie konflikthaft enge familiale und verwandtschaftliche Beziehungen sein können, wenn sie stark beansprucht werden. Auch da spielt wieder die Armutsdauer eine Rolle, denn kurzfristige Unterstützung kann selbstverständlicher gewährt werden. Aus unseren Studien wissen wir aber, dass sich arme Menschen sozial ausgegrenzt fühlten, auch unabhängig von ihrer familialen Situation. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Häufigkeit der Zusammentreffen nichts über die Qualität der Beziehungen aussagt und dass soziale Beziehungen nicht alles kompensieren können.
Welche Konsequenzen für unsere Gesellschaft lassen sich aus Ihrer Studie ziehen?
PB: Wenn die Familien verstärkt zum Auffangbecken in Notlagen werden, vergrößert das die soziale Ungleichheit und Lebenslagen polarisieren sich. Nicht jede Familie kann nämlich gleich viel Unterstützung leisten. Zieht sich der Sozialstaat zurück, kommt der sozialen Herkunft also nochmal stärkere Bedeutung für die Bewältigung von Lebensrisiken zu. Familie und Freunde können aber kein Ersatz für sozialstaatliche Leistungen sein. Wir sehen auch, dass die Armutsdauer eine entscheidende Rolle spielt. Soziale Netzwerke verändern sich nicht schlagartig. Maßnahmen zur Beseitigung von Armut müssen daher früher einsetzen. Letztlich müssen aber wohl die strukturellen Ursachen von Armut insgesamt stärker in den Mittelpunkt gerückt werden. Das ist eine politische Aufgabe und kann nicht den betroffenen Menschen überlassen werden.