Von „Mutter Erde“ und dämonischen HexenAusstellung zu Vorstellungen von Natur und Weiblichkeit in der Frühen Neuzeit
23. Oktober 2017, von Ellen Schonter
„Mutter Erde“ und dämonische Hexen – bis heute existieren zahlreiche bildhafte Vorstellungen von Frauen, die ihren Ursprung in der Frühen Neuzeit haben. Einblicke in diese Vorstellungen gibt seit heute die Ausstellung „Mutter Erde“ in der Kunstsammlung der Universität Göttingen mit rund 100 Kupferstichen – darunter Objekte aus der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg sowie der Fachbereichsbibliothek Kulturwissenschaften. Prof. Dr. Iris Wenderholm und Dr. Maurice Saß vom Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg haben die Ausstellung in einem Gemeinschaftsprojekt konzipiert.
Herr Dr. Saß, Frau Prof. Dr. Wenderholm und Sie haben zusammen mit Studierenden die Ausstellung „Mutter Erde“ konzipiert. Was ist die Idee der Ausstellung?
Im Mittelpunkt steht die Beobachtung, dass seit der Frühen Neuzeit Vorstellungen von Natur und Weiblichkeit eng verknüpft werden. Zum einen wird sich die Natur als weiblich vorgestellt, das heißt wir projizieren unsere Geschlechtervorstellung in die Natur hinein, zum Beispiel durch Allegorien wie „Mutter Natur“.
In die andere Richtung wirken sich diese Vorstellungen wieder auf unser menschliches Miteinander aus, denn Natur ist immer auch der Ort, von dem aus wir als Gesellschaft unsere Geschlechtervorstellungen legitimieren. Ständig hört und liest man zum Beispiel, dass ein einziger Blick ins Tierreich reichen würde, um zu sehen, dass es natürlich sei, wenn sich vor allem Frauen um die Kindererziehung kümmerten.
Existieren die Frauenbilder der Frühen Neuzeit noch heute?
Während der Beschäftigung mit dem Thema bin ich immer wieder darauf gestoßen, wie in populären Medien oder der Werbung die sprachlich geläufigen Bilder von „Mutter Erde“ oder „Gaia“ verwendet werden. Ein Beispiel ist die Fotostrecke der Sängerin Beyoncé, als sie schwanger war. Legt man ihre Fotos neben die Druckgrafiken unserer Ausstellung, sieht man eins zu eins, woher das Bildmotiv stammt.
Und dieses Motiv hat auch keine Vermittlungsschwierigkeiten: Jeder, der das Bild von Beyoncé sieht, hat sofort verstanden, worum es bei dem Bild geht – obwohl viele Betrachter das Motiv von „Mutter Erde“ wahrscheinlich gar nicht benennen können. Die visuell geprägten Vorstellungen aus der Frühen Neuzeit funktionieren also weiterhin als Bilder.
Wie genau sahen die Darstellungen in der Frühen Neuzeit aus?
Wir haben die Darstellungen in vier Typen unterteilt: Erstens die Frau als Personifikation der abstrakten Natur. Dabei gibt es neue Darstellungsformen, die im Mittelalter noch nicht verbreitet waren: zum Beispiel die Natur als schöne nackte Frau, deren wichtigstes Motiv häufig das Milchspenden ist. Die Frau stillt die ganze Natur, bringt Leben hervor und hält am Leben.
Zweitens werden Frauen auch zur Darstellung der Ordnung der Natur verwendet, d.h. um Jahreszeiten, Planeten oder Elemente zu verkörpern. Besonders interessiert hat uns dabei die männliche und weibliche Codierung: Höhere oder stärkere Elemente sind typischerweise männlich, schwächere oder passive Elemente sind weiblich dargestellt. Beispielsweise wird die Sonne als strahlender Planet männlich dargestellt – und der Mond, dessen Licht viel schwächer scheint, ist weiblich.
Drittens werden Frauen als Naturwesen dargestellt, d.h. als Wesen mit einem hohen Grad an Naturverbundenheit wie Hexen oder Nymphen. Dazu zählt aber auch das beliebte Motiv des weiblichen Akts in der Landschaft, das wir zum Beispiel bei der Venus von Tizian finden. Letztendlich hängen damit bis heute gültige Klischees zusammen, wie dass vor allem Frauen einen grünen Daumen hätten.
Viertens gibt es Darstellungen, in denen die weibliche Natur durch ihre Schöpfungskraft als Vorbild und Inspirationsquelle für die Kunst gilt.
Stehen diese verschiedenen Vorstellungen nicht im Widerspruch zueinander?
Genau das versuchen wir in der Ausstellung aufzuzeigen: Es gab nicht die eine Strategie bei der Darstellung von Frauen, genauso wenig wie es sie heute gibt. Es gab verschiedene Orte und Kontexte, in denen Frauenbilder aufgekommen sind: In der häuslichen Sphäre oder durch biologische Eigenschaften der Frau – wie einerseits das positiv verklärte Gebären oder Stillen und andererseits die angenommene Schwäche oder sogar Deformiertheit im Vergleich zum Mann. Prägend war auch das Christentum, das Sexualität tabuisierte und das Frauenbild stark mit Maria, der Mutter Jesu verband. Alle diese Frauenvorstellungen standen in einer Pluralität nebeneinander.
Es gibt aber auch Fälle, in denen die typischen Darstellungen hinterfragt werden. Ein Beispiel ist der Kupferstich „Apollo und Diana“ von Jacopo de‘ Barbari. Typischerweise wird die Sonne als männlich dargestellt und der Mond als weiblich. Ungewöhnlich ist aber die starke Betonung der Planetenlaufbahnen und der Kugelform des Kosmos. Damit lässt das Bild erahnen: Die Sonne wird untergehen, die bestehenden hierarchischen Verhältnisse bewegen sich. Ich finde es beeindruckend, wie feinfühlig ein Künstler gegen bestehende Lesarten von Geschlechtern operiert – oder zumindest ein Fragezeichen dahinter setzt.
Zur Ausstellung „Mutter Erde“ in Göttingen
„Mutter Erde“ ist vom 22. Oktober 2018 bis zum 29. Juli 2019 in der Kunstsammlung der Universität Göttingen zu sehen.
Die Ausstellung ist ein Kooperationsprojekt des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Hamburg, der Forschungsstelle „Naturbilder“, der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg sowie der Kunstsammlung der Universität Göttingen. Zur Ausstellung haben Maurice Saß und Iris Wenderholm auch einen Katalog herausgegeben.
Hintergrund zur Entstehung
Die Ausstellung entstand im Rahmen von drei Seminaren, die Prof. Dr. Iris Wenderholm und Dr. Maurice Saß seit dem Wintersemester 2015/16 geleitet haben, zunächst unter dem Arbeitstitel „Frauenbilder der Natur“. Ein wichtiger Beweggrund war auch die Bearbeitung von Teilbeständen der bisher weitgehend unerschlossenen Kupferstichsammlung der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Damit ist die Ausstellung nach „Manier, Mythos und Moral. Niederländische Druckgraphik um 1600 aus den Beständen der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg“ (2014) das zweite große Lehrprojekt, das sich der Erschließung des nahezu unbekannten Bestandes widmet.
Die Studierenden analysierten in den Seminaren in Referaten und Hausarbeiten Bilder aus einem Fundus von rund 300 Grafiken und Kupferstichen und erstellten für den Ausstellungskatalog Begleittexte zu den Ausstellungsobjekten. Im letzten Exkursionsseminar arbeiteten die Studierenden am Ausstellungskonzept Göttingen mit und wurden unter der Leitung von Dr. Anne-Katrin Sors mit der praktischen Seite des Museumsbetriebs vertraut gemacht.