Wenn der Permafrost taut:Hamburger Ethnologe untersucht Auswirkungen des Klimawandels in Sibirien
21. August 2017, von Anna Priebe
Foto: A.N. Fedorov
Durch den Klimawandel steigen die Temperaturen – auch in Sibirien. In den dortigen Permafrost-Gebieten droht der Boden an vielen Stellen zu tauen. Welche Auswirkungen das auf die örtliche Bevölkerung und ihre Landnutzung hat, untersucht gemeinsam mit einem interdisziplinären Team Prof. Dr. J. Otto Habeck vom Institut für Ethnologie.
Das Klima in Jakutien, einer Region im hohen Norden Russlands, ist rau: Im Winter herrschen Temperaturen von bis zu minus 60 Grad. Mehr als sechs Monate pro Jahr liegt Schnee auf den Bergen und Ebenen, die mit Kiefern und Lärchen überzogen sind, sowie auf den zahlreichen Gras- und Weideflächen. Rund eine Million Menschen leben in dem Gebiet, das größer ist als Argentinien; etwa die Hälfte davon sind jakutischer Nationalität. Seit vielen Hundert Jahren betreiben die Einwohnerinnen und Einwohner Zentraljakutiens Landwirtschaft auf dem Permafrostboden; dieser ist von mehrere Meter hohen Eiskeilen durchzogen, teilweise sind mehr als 50 Prozent der Bodensubstanz Eis.
Im Fokus: Veränderungen in den vergangenen 50 Jahren
Doch wie lang werden sie das noch machen können? J. Otto Habeck, Professor am Institut für Ethnologie der Universität Hamburg, ist nach Jakutien gereist, um herauszufinden, wie sich die Landnutzung in den vergangenen 50 Jahren bis heute unter den durch den Klimawandel bedingten Voraussetzungen entwickelt hat – im konkreten Fall sind das vor allem Rinderzucht und Pferdezucht, die sehr stark angepasst sind an die naturräumlichen Bedingungen. Denn: Viehzucht wird in grasbewachsenen Senken, sogenannten „Alas“, betrieben, die vor 6000 bis 8000 Jahren durch eine damalige Wärme- und Auftauperiode entstanden.
Während die Jakuten bei ihrer Besiedlung der Region vor mehr als 500 Jahren also indirekt vom Klimawandel profitierten, zeigt das aktuelle Forschungsprojekt, dass sie in naher Zukunft mit erheblichen Problemen rechnen müssen. „Durch den Klimawandel der vergangenen zehn bis zwanzig Jahre ist die mittlere Lufttemperatur gestiegen, aber auch die Temperatur in den oberen Bodenschichten“, erklärt der Ethnologe. Dadurch bestehe die Gefahr, dass in absehbarer Zeit die unterliegenden Permafrost-Schichten oder zumindest Teile davon austauen, was an diesen Stellen zu Bodenabsenkungen und Versumpfungen führen dürfe. Das Hauptproblem dabei: „Die Umweltveränderungen haben eine solche Geschwindigkeit, dass eine sozio-ökonomische oder auch kulturelle Anpassung sehr schwer sein dürfte“, so Habeck. Inzwischen kann es passieren, „dass sich auf einem Gebiet, auf dem zu Sowjetzeiten eine Ackerfläche angelegt wurde, die jetzt brach liegt, innerhalb von 30 Jahren ein See bildet – über eine Fläche von bis zu 100 Metern“.
Interdisziplinäre Forschung zu den Auswirkungen
Habeck führte Interviews mit den Menschen vor Ort: „Ich habe nachgefragt, wie sich Landwirtschaft über die letzten 50 Jahre verändert hat. Da war es wichtig, eher mit den älteren Leuten zu sprechen.“ Zudem sprach er mit Expertinnen und Experten, die in den vergangenen Jahrzehnten an Entscheidungen über Landnutzung beteiligt waren. In Archiven recherchierte er zudem Material über die Meliorationsvorhaben, also die Ent- und Bewässerung von Böden während der Sowjetzeit. Es zeigte sich, dass die Menschen die Tauprozesse zum Beispiel dadurch wahrnehmen, dass Wiesen und Weiden durch Versumpfung unbrauchbar werden, aber auch durch absinkende Gebäude und Straßen.
Die ergänzenden Daten zu den Landschaftsveränderungen stammten unter anderem von Dr. Mathias Ulrich vom Institut für Geographie der Universität Leipzig, der schon seit Jahren zu Permafrost forscht. Gemeinsam mit Habeck hat er das Projekt in Sibirien initiiert – eines der ersten, das interdisziplinär Permafrost, Klimawandel und Landnutzung untersucht. Im Laufe der Zeit kamen auch andere Fachrichtungen hinzu, zum Beispiel arbeiteten sie mit Soziologinnen und Historikern vor Ort zusammen, die die demografische Entwicklung in den jeweiligen Siedlungen betrachten.
Empfehlungen für die Bevölkerung vor Ort
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler leiteten aus ihren Ergebnissen Empfehlungen für die lokale Bevölkerung ab, die sowohl in den regionalen Medien als auch bei wissenschaftlichen Workshops diskutiert wurden. Eine Empfehlung ist zum Beispiel, auf sogenannte Reserveflächen auszuweichen. „Manche Flächen wurden zu Sowjetzeiten nicht genutzt, weil sie zu weit von den Zentralsiedlungen entfernt sind. Wenn sich das ökonomisch rechnet und die Flächen noch intakt sind, dann kann es durchaus Sinn machen, auf diese etwas peripherer gelegenen Flächen zurückzukehren“, so Habeck. Zudem könnten spezialisierte Technologien in der Landwirtschaft genutzt werden, etwa Maschinen und Verfahren der Be- und Entwässerung, die den sensiblen Bodenbedingungen entsprechen.
„Die Leute sind seit Generationen in der Landwirtschaft beschäftigt und haben nicht nur ein sehr genaues Verständnis von Veränderungen in der Umwelt, sondern haben auch ein sehr konkretes Bedürfnis, herauszufinden, wie sich ihre Situation wirtschaftlich über die nächsten Jahre entwickeln kann“, erklärt Habeck.
Artikel zum Forschungsprojekt in „Anthropocene“: doi.org/10.1016/j.ancene.2017.06.001