Ein Prozess, der Spuren hinterlassen hatDie Akten zum „Stammheim-Prozess“ werden in einem Forschungsprojekt untersucht
1. August 2017, von Viola Griehl
Foto: privat
Der Stammheimer RAF-Prozess von Mai 1975 bis April 1977 ist ein Schlüsselereignis der deutschen Geschichte. Staatsanwälte, Richter, Angeklagte und Verteidiger lieferten sich lange Wortgefechte, hinzu kamen Hungerstreiks der Angeklagten, ein Abhörskandal, Vorwürfe wegen Isolationsfolter und schließlich die Suizide der Angeklagten in der Haft. In einem Forschungsprojekt der Fakultät für Rechtswissenschaft werden seit April 2017 unter Leitung von Prof. Dr. Florian Jeßberger die zentralen Quellen des RAF-Prozesses erschlossen und digital aufbereitet.
Herr Professor Jeßberger, der Stammheim-Prozess dauerte 192 Tage, allein die Anklageschrift umfasst mehr als 350 Seiten und es ist die Rede von rund 15.000 Seiten Akten – was können künftige Juristinnen und Juristen aus diesen Quellen lernen?
Die Beschäftigung mit den historischen Grundlagen des geltenden Rechts ist immer gewinnbringend. Die Studierenden an die Grundlagen des Rechts heranzuführen, ist im Übrigen ganz allgemein ein besonderes Anliegen unserer Fakultät. Und „Stammheim“ ist ein Lehrstück dafür, wie der Staat und wie die Strafjustiz auf die Herausforderung durch politisch motivierte Gewalt reagieren.
Seinem Zuschnitt nach handelt es sich bei unserem Projekt um ein Forschungsvorhaben, aber die Beschäftigung mit Fragen an der Schnittstelle von Terrorismus, Terrorismus-Strafrecht und juristischer Zeitgeschichte kann eben auch lehrreich sein.
Wir erleben bei vielen Vortrags- und Lehrveranstaltungen, dass die Studierenden von heute das Thema Stammheim und Terrorismus ausgesprochen interessiert – und das nicht nur, weil Terrorismus immer noch (oder wieder) auf der Tagesordnung steht.
Der Prozess gegen Andreas Baader, Ulrike Meinhoff, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe ist einer der großen politischen Strafprozesse des 20. Jahrhunderts und er war in vielerlei Hinsicht besonders – auch wegen seines Umfangs: Fast tausend Zeugen wurden geladen, dazu kamen noch einmal tausend Polizeiberichte und etwa vierzigtausend Beweismittel. Damit gehört der Prozess zu den aufwändigsten Prozessen der bundesdeutschen Geschichte.
Das verdeutlicht auch die Tatsache, dass die Anklageschrift erst am 26. Verhandlungstag verlesen werden konnte. Die Angeklagten stellten zudem eine ganze Reihe von Befangenheitsanträgen gegen den Vorsitzenden Richter. Am 174. Verhandlungstag wurde einem solchen Antrag von Gudrun Ensslin schließlich stattgegeben.
Was genau ist das Ziel des Forschungsprojektes?
Über Stammheim ist viel geschrieben, viel geforscht worden, aus sozialwissenschaftlicher und historischer Sicht, aber auch aus Perspektive der Rechtswissenschaft. Umso mehr überrascht es, dass die zentralen Quellen nach wie vor nicht erschlossen sind. Diese Lücke wollen wir schließen.
Sowohl das Urteil vom 28. April 1977 als auch das mehrere tausend Seiten umfassende Wortprotokoll der Hauptverhandlung werden erstmals vollständig öffentlich zugänglich gemacht. Juristische Erläuterungen und historische Anmerkungen werden die Edition der Quellentexte ergänzen und sollen so die juristische und historische Rekonstruktion des Prozessgeschehens möglich machen.
Die Arbeit unserer Projektgruppe aus Historikerinnen und Historikern sowie Juristinnen und Juristen ist auf drei Jahre angelegt. Die Kooperation mit dem Bundesarchiv in Koblenz, wo die Originalakten liegen, ist dabei ein wichtiger Baustein. Nicht zuletzt sollen die Ergebnisse unserer Arbeit auch Grundlage für weitere rechtswissenschaftlich und geschichtswissenschaftlich orientierte Forschung sein.
Beteiligt ist mit Kurt Groenewold auch ein Jurist, der als Rechtsbeistand von Andreas Baader am Stammheim-Prozess beteiligt war und damit ein Zeitzeuge ist. Welchen Einfluss hat das auf die Forschungsarbeit?
Kurt Groenewold war Strafverteidiger von Andreas Baader, allerdings wurde er – wie z. B. auch Christian Ströbele – bereits vor Beginn der Hauptverhandlung vom Prozess ausgeschlossen, weil man den Anwälten vorwarf, eine kriminelle Vereinigung zu unterstützen. Für unser Projekt hat Kurt Groenewold eine besondere Bedeutung, gerade durch seine Eigenschaft als Zeitzeuge. Selbstverständlich ist uns bewusst, dass er sich mit den Ereignissen anders auseinandersetzt als wir das tun. Die Art und Weise, wie er in unsere Arbeit eingebunden ist und sein wird, wird das berücksichtigen. Aber er ist ein wichtiger Impulsgeber und Begleiter unserer Arbeit.
Was waren die Folgen des Prozesses für den Rechtsstaat und die Strafprozessordnung?
Aus der Distanz unserer Zeit kann man sicher nüchtern feststellen: Es steht außer Frage, dass es im Laufe des Verfahrens rechtsstaatswidrige Maßnahmen gegeben hat, etwa das Abhören von Gesprächen zwischen den Angeklagten und deren Verteidigern. Zugleich gewinnt man aus der Lektüre des Verhandlungsprotokolls den Eindruck, dass das Gericht auch überfordert war.
Als direkte Reaktion auf das Prozessgeschehen sind damals zahlreiche Bestimmungen der Strafprozessordnung geändert worden; da geht es um die Rechte der Verteidigung; da geht es darum, dass eine Hauptverhandlung auch in Abwesenheit des Angeklagten stattfinden kann oder um die sogenannte Kontaktsperre, also das Unterbinden von Kontakten zu Mitgefangenen oder der Außenwelt, auch zu den Strafverteidigern. Zum Teil sind diese Gesetzesänderungen bis heute in Kraft. „Spuren von Stammheim“ finden sich also noch im geltenden Recht. Dies betrifft auch eine der Schlüsselnormen des heutigen Anti-Terrorstrafrechts, den Paragrafen 129a des Strafgesetzbuches, er stellt die Bildung terroristischer Vereinigungen unter Strafe.
Herr Professor Jeßberger, vielen Dank für das Interview!
Link zum Projekt mit weiteren Informationen und Videoaufzeichnungen der Auftaktveranstaltung: www.stammheim-prozess.de.