Kolonialismusforschung„Die Geschichte der Globalisierung ist die Geschichte des Kolonialismus“ – Prof. Jürgen Zimmerer im InterviewEin Interview über die Erforschung unserer kolonialen Vergangenheit
1. Juni 2017, von Daniel Meßner
Kolonialismus ist ein zentrales Kapitel, um die gegenwärtige Welt zu verstehen, ist Prof. Jürgen Zimmerer überzeugt. Der Historiker leitet die Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die frühe Globalisierung“. Im Gespräch erklärt er, warum die deutsche Kolonialgeschichte erst 1945 endete und er Forschung für das 21. und 22. Jahrhundert leistet.
Herr Prof. Zimmerer, Sie beschäftigen sich schon seit vielen Jahren mit dem Thema Kolonialismus. Welche Bedeutung hat die Kolonialismusforschung für das Verständnis gegenwärtiger Entwicklungen?
Die Geschichte der Globalisierung ist die Geschichte des Kolonialismus. Globalisierungskritik, wie sie etwa von nationalistischen Populisten artikuliert wird, hat oftmals eine Schieflage. Nicht die Globalisierung „überfällt'“ Europa, sondern Europa hat die Globalisierung geschaffen. Es waren die Schiffe unter Magellan, die Anfang des 16. Jahrhunderts den Globus umrundeten und damit einen globalen Kommunikationsraum geschaffen haben, der bis heute nachwirkt.
Es gibt berechtigte Globalisierungskritik. Aber gerade der rechte Populismus, der zurzeit enorm wächst, argumentiert mit europäischen Werten und dass „wir“ diese alleine und in Isolation geschaffen und unseren Wohlstand aus eigener Kraft erarbeitet hätten. Und dass „andere“ kommen würden, die nichts geleistet haben, aber trotzdem teilhaben wollen. Aber die Wahrheit ist eigentlich: Europa wurde zu Europa auch auf dem Rücken der Kolonisierten.
Mit welchen Fragen beschäftigen Sie sich in Ihrer Forschung?
Europa wurde zu Europa auch auf dem Rücken der Kolonisierten.
Ich erforsche die Erscheinungsformen des Kolonialismus und seine Auswirkungen auf die kolonisierten und die kolonisierenden Gesellschaften. Dabei geht es mir insbesondere um das Verhältnis von Ressourcenkonflikten und Gewalt, was mich bis zur Klimawandelfolgenforschung im 21. Jahrhundert führt. Mich interessieren auch die Ausformung des kolonial-rassistischen Denkens im 19. Jahrhundert, die Rolle des Kolonialismus in der Wilhelminischen Gesellschaft und dessen Bezüge zu den Verbrechen des 3. Reiches, zum Holocaust und dem Krieg in Osteuropa. Ich bin der Meinung, dass der Krieg in Polen und der Sowjetunion eigentlich ein kolonialer Eroberungskrieg war. Und dass die deutsche Kolonialgeschichte erst 1945 endet, mit der Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa.
Wir erleben bei der Globalisierung gerade eine Richtungsumkehr: In den letzten 600 Jahren hat sich Europa über die Welt ausgebreitet und jetzt kommen Menschen in den Globalen Norden. Und das sind nicht nur die Geflüchteten, sondern zum Beispiel auch Investoren. Diese Richtungsumkehr finde ich faszinierend und deshalb ist der Kolonialismus ein zentrales Kapitel für das Verstehen unserer Welt.
Setzt sich Deutschland zu wenig mit unserer kolonialen Vergangenheit auseinander?
Der Kolonialismus spielte immer eine Rolle, aber wurde häufig verklärt. Das entsprach keiner angemessenen Darstellung der historischen Realität. In vielen Städten, wie Hamburg und Berlin, gibt es koloniale Monumente oder Straßennamen, die etwa nach dem deutsch-dänischen Kaufmann und Sklavenhändler und –halter Heinrich-Carl von Schimmelmann oder dem Offizier und Kolonialbeamten Hermann von Wissmann benannt sind.
Das heißt, das koloniale Erbe war immer präsent, aber meist völlig unkritisch und nicht kontextualisiert. Das ändert sich aber gerade. Seit der Jahrtausendwende wächst das Interesse. Beispielsweise waren in unserer Ringvorlesung im letzten Sommersemester teilweise 400 Zuhörerinnen und Zuhörer. Das ist für eine historische Ringvorlesung zu einem sperrigen Thema enorm viel.
Sie leiten die Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die frühe Globalisierung“. Was untersuchen Sie dort?
Mich interessiert am Beispiel Hamburg, welche Beziehung ein bürgerlicher Mensch beispielsweise um 1900 oder 1910 zum Kolonialismus hatte, selbst wenn er gar nicht gereist ist oder nie in einer Kolonie war. Denn es sind nicht nur die Reeder und Handelsfirmen, die sich im und für den Kolonialismus engagierten: Es ist auch die Wissenschaft, es sind die Völkerschauen, das Völkerkundemuseum oder die Theater, in denen Stücke mit kolonialem Hintergrund gespielt wurden, kurz: Es ist die bürgerliche Kultur, und wie etwa unsere Forschungen zeigen, auch die unterbürgerliche.
Hamburg war eine „Kolonialmetropole des Kaiserreichs“. Welche Rolle spielte der Kolonialismus für die Stadt?
Hamburg bezeichnet sich selbst als Tor zur Welt und als Drehscheibe zwischen Deutschland und der Welt. Und diese Welt war bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine koloniale Welt. Hamburg trieb Handel mit Kolonialmächten, Kolonien oder mit ehemaligen Kolonien, und es handelte mit Kolonialwaren, und teilweise auch mit Menschen.
Wie wird in Hamburg damit umgegangen. Ist das Teil der Hamburger Identität?
Ich denke es ist auf jeden Fall Teil der Identität der Stadt, aber verklärend. Nehmen Sie beispielsweise die Speicherstadt, die 2015 zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Was wurde denn da gespeichert und was wurde hier verarbeitet und weiterverkauft? Kolonialismus war immer präsent, aber nicht in einem kritischen Sinne.
Gleichzeitig finden in Hamburg seit 2000 große Diskussionen über den Umgang mit dem kolonialen Erbe statt. Aber das heißt nicht, dass die Stadt die Geschichte bereits aufgearbeitet hat. Hamburg hat das 2014 selbst anerkannt. Der Senat hat, weithin beachtet, ein stadtweites postkoloniales Erinnerungskonzept gefordert. Das ist bislang noch nicht erfolgt, aber unsere Projekte und die Forschungsstelle leisten dazu einen Beitrag, in dem wir Kontext und historische Hintergründe liefern.
Welche Rolle spielt die Forschung in der Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit?
Jede kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit tut Not. Das ist ja Zukunftsforschung. Wir streben einen Perspektivwechsel an und versuchen einen Beitrag zur Überwindung des Kolonialismus zu leisten. Letztlich wird die Globalisierung nicht zurückzudrehen sein. Die Zukunft Europas beruht auch darauf, dass wir dem Ist-Zustand ins Auge blicken. Daher leisten wir Forschung für das 21. und 22. Jahrhundert. Wir müssen erkennen, dass sich die wirtschaftlichen und politischen Schwerpunkte der Welt verändern.
Derzeit laufen Verhandlungen zwischen der deutschen und namibischen Regierung zur Anerkennung der Kriege an den Herero und Nama als Völkermord. Wie ist der aktuelle Stand?
Die Verhandlungen sind nahezu gescheitert, weil vor allem die deutsche Verhandlungsführung große Fehler gemacht hat. Im Moment sieht es so aus: Wir haben keine Anerkennung durch das deutsche Parlament, keine Entschuldigung durch den Bundespräsidenten und dazu noch eine Klage der Herero in New York gegen Deutschland. Und nun droht die namibische Regierung, ebenfalls auf Wiedergutmachung zu klagen. Das ist im Grunde ein Desaster.
Welche Fehler wurden aus Ihrer Sicht gemacht?
Wer Schuld anerkennt, sollte meiner Meinung nach nicht fordernd auftreten. Es war falsch, die Anerkennung als Völkermord und die Entschuldigung nur bei Verzicht auf Wiedergutmachungsforderung zu leisten und all das nur mit der namibischen Regierung auszuhandeln.
Ich habe damals den umgekehrten Weg vorgeschlagen: Sich entschuldigen und von Seiten des Parlaments den Völkermord anerkennen und ein Austauschprogramm beginnen, wie es auch mit Polen und Frankreich gemacht wurde. Und mein Vorschlag war, die Reparationsfrage außen vor zu lassen, guten Willen zu zeigen und Investitionen in Aussicht zu stellen.
Warum tut sich Deutschland so schwer mit der Anerkennung des Völkermords?
Es ist die Angst vor einem Präzedenzfall. Man will nicht anerkennen, dass man für getötete Menschen Wiedergutmachung zahlen muss – schließlich hat Deutschland im Falle des Zweiten Weltkriegs Millionen von Tote zu verantworten. Aber diese Fragen sind nicht juristisch zu klären, sondern auf moralischer Ebene. Und ich denke, wir stehen moralisch in der Pflicht.