30. September 2020
Studie mit zeitweise erblindeten MenschenWahrnehmungsverzerrungen entstehen schon in der Kindheit
Foto: privat
Wilhelm Wundt, der als Gründer der experimentellen Psychologie gilt, wurde inspiriert durch erbitterte, gut dokumentierte Streitigkeiten zwischen Astronomen des 17. und 18. Jahrhunderts. Diese bestimmten die Veränderung von Sternenpositionen mithilfe der „Auge und Ohr“-Methode, die einen genauen zeitlichen Abgleich der Sehbeobachtung mit dem Taktschlag eines Metronoms erforderte. Die Messungen einzelner Astronomen unterschieden sich systematisch voneinander – und von der physikalischen Realität. „Der Ursprung solcher individuell variierenden Wahrnehmungsverzerrungen blieb trotz ihrer prominenten Rolle in der Wissenschaftsgeschichte ungeklärt“, sagt Prof. Dr. Brigitte Röder, Leiterin Biologische Psychologie und Neuropsychologie der Universität Hamburg.
Für ihre Studie haben Forscherinnen und Forscher der Universität Hamburg und der Tufts University in Boston (USA) in Kooperation mit dem LV Prasad Eye Institute in Hyderabad (Indien) Menschen getestet, die aufgrund von beidseitigem Grauen Star zwischen einem halben Jahr und mehreren Jahren nach der Geburt blind waren und deren Augenlicht dann durch eine Operation wiederhergestellt werden konnte.
Den Probandinnen und Probanden wurden Töne und Lichtreize in schneller Abfolge auf der linken und rechten Seite präsentiert. Sie sollten angeben, welcher der beiden Reize, links oder rechts, für sie zuerst wahrnehmbar war. Obwohl sie außer Acht lassen konnten, ob es sich bei den Reizen um einen Ton oder einen Lichtblitz handelte, beeinflusste die Art der Reize die zeitliche Wahrnehmung. Die Neu-Sehenden gaben mehrheitlich an, dass die Lichtblitze vor den Tönen präsentiert worden waren. Eine Kontrollgruppe hingegen zeigte die typische Verzerrung, die schon Wundt faszinierte: Sie nahm die Töne fälschlicherweise als früher wahr als die Lichtblitze.
Ehemals blinde Menschen nahmen Lichtreize früher wahr als Töne
„Dieses Ergebnis war sehr überraschend, denn wir wissen aus vorherigen Messungen der Gehirnströme mittels EEG, dass zeitweise Blindheit nach Geburt nicht zu einer Beschleunigung der visuellen Verarbeitung führt“, erklärt Prof. Dr. Stephanie Badde, die nach ihrem Studium, ihrer Promotion und anschließender Forschungs- und Lehrtätigkeit an der Universität Hamburg inzwischen Assistent Professor an der Tufts University in Boston (USA) ist. Die Erklärung: Der Graue Star lässt unspezifische Lichteindrücke durch, jedoch geschieht die Weiterleitung mit einiger Verzögerung. Also haben die mit Grauem Star geborenen Menschen von Beginn an gelernt, dass beim gleichzeitigen Auftreten von Lichteindrücken und Geräuschen, die Reaktion auf den Lichtreiz im Gehirn zeitlich verzögert erfolgt.
Das heißt insgesamt: Auch wenn der Graue Star behandelt wird und die Betroffenen wieder sehen können, bleibt dieser in der frühen Kindheit gelernte Ausgleichsmechanismus erhalten. Da jedoch nach der Behandlung keine zeitliche Verzögerung durch die Erkrankung mehr vorliegt, nehmen die Patienten die Lichter jetzt als früher wahr als die Töne. Patienten, bei denen der Graue Star erst später im Leben auftrat, zeigen qualitativ die gleichen Wahrnehmungsverzerrungen wie gesunde Kontrollprobanden.
Dieser Unterschied zwischen den Patientengruppen verdeutlicht, dass die Mechanismen, die für die Beurteilung der zeitlichen Reihenfolge von Ereignissen in der Umwelt verantwortlich sind, durch sensorische Erfahrungen im Säuglingsalter geprägt werden. „Die interindividuellen Unterschiede in der zeitlichen Wahrnehmung von Licht, Schall und Berührungen werden in der frühen Entwicklung während sensibler Phasen erworben und begleiten uns fortan ein Leben lang“, resümiert Prof. Dr. Brigitte Röder.
Folglich können die als „Astronomenproblem“ bekannt gewordenen stabilen individuellen Unterschiede in der zeitlichen Wahrnehmung von Seh- und Hörinformationen durch natürlich auftretende Unterschiede in der Entwicklung der sensorischen Reizverarbeitung erklärt werden.