„Werte sind ohne Bewertungen nicht zu haben“Gespräch über Demokratie, Schule und sozialen Zusammenhalt
17. Januar 2024, von Bente Gießelmann
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Gemeinsames Wissen und konstruktiver Streit um Werte: Im Interview erklärt Prof. Dr. Tilman Grammes, Professor für Erziehungswissenschaft im Ruhestand, wie Demokratiebildung gelingen kann und welche Hürden es gibt.
Herr Grammes, wie kann es Bildungseinrichtungen gelingen, den sozialen Zusammenhalt und die Demokratiebildung zu stärken?
Das ist eine sehr voraussetzungsreiche, komplexe Frage, die auf vielen unterschiedlichen Ebenen bearbeitet werden kann. Eine klassische didaktische Antwort lautet: Sozialer Zusammenhalt wird gestärkt durch gemeinsam geteilte Erfahrung und geteiltes Wissen. In einer differenzierten, individualisierten Gesellschaft wird es schwieriger, solches Wissen zu identifizieren und mit Leben zu füllen. Soziale Medien führen dazu, dass sich Filterblasen und abgeschottete Milieus bilden. Schule und Unterricht sind einer der wenigen verbleibenden Orte, die allen Kindern und Jugendlichen gemeinsame Erfahrungen und geteiltes Wissen ermöglichen können.
Um welches Wissen geht es hier?
Die erwachsene Generation einer Gesellschaft muss sich darüber verständigen, welches Wissen das im Kern sein kann und soll. In der Schule sind die Bildungspläne das, worauf sich verständigt wird, was in diesen Bildungseinrichtungen an Wissen weitergegeben werden soll. Bildungspläne erfordern gute und konsensfähige Begründungen für die Auswahl des Wissenswerten, die nur in einem transparenten demokratischen Entscheidungsprozess gefunden werden können.
Die aktuelle neue Generation Hamburger Bildungspläne, die in den nächsten Jahren erprobt werden wird, setzt als eine Leitperspektive beispielsweise auf „Werte für ein gelingendes Zusammenleben in einer solidarischen, vielfältigen Gesellschaft“. Von Werte-Bildung wird also ein Beitrag zum geteilten Wissen erwartet.
Welche Werte sind hier gemeint?
Grundwerte werden oft mit Grundrechten der Verfassung verbunden, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union oder der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der Kinderrechte der UN. Ein solcher Wertebezug kann aber auch schnell zu enttäuschten Erwartungen führen. Deshalb ist es wichtig zu vermitteln, dass reflexive Werte-Bildung unweigerlich Werte-Konflikte auf mindestens drei Ebenen einschließt.
Erstens versteht jeder etwas anderes unter „Frieden“, „Gleichheit“ oder „Gerechtigkeit“ – auch wenn wir uns alle auf dieselben Wertbegriffe beziehen. Zweitens stehen Werte untereinander in einem Spannungsverhältnis, zum Beispiel kann „Frieden“ bedeuten, Kompromisse bei Eigentumsrechten auf Land eingehen zu müssen. Und drittens ist oft strittig, wie die Situation überhaupt zu beurteilen ist, auf deren Beurteilung Werte bezogen werden. Denken wir nur an die verworrene, überkomplexe Situation in internationalen Konfliktregionen wie zum Beispiel Afghanistan, der Ukraine oder im Nahen Osten.
Diese drei Ebenen des Wertebezugs zeigen, dass Werte immer erst auf konkrete menschliche Praxis ausgelegt werden müssen, und das geht nur, wenn in einem offenen Gespräch über Wertbezüge diskutiert und auch mal gestritten wird. Werte sind ohne Bewertungen nicht zu haben. Die Kommunikationsforschung zeigt, dass Wertbezüge daher eher zu mehr als zu weniger Konflikten führen. Genau dieses gemeinsame und offene Streiten, wenn es in Schulen vorgelebt und geübt wird, könnte es aber sein, was uns am Ende besser zusammenhält. Streiten verbindet!?
Haben Sie ein Beispiel für konkrete Inhalte des Unterrichts, in denen diese Leitperspektive behandelt werden kann?
Im Juni 2024 sind Unionsbürgerinnen und -bürger aufgerufen, sich an den allgemeinen und freien Wahlen für das Europäische Parlament zu beteiligen, die in Hamburg zusammen mit den Wahlen zu den Bezirksversammlungen stattfinden. In Hamburg können sich erstmals 16-Jährige beteiligen.
Die Gründungsidee der Europäischen Union nach dem Weltkrieg war ein Friedensprojekt. Verfeindete Nachbarstaaten sollten durch die Methode der Verzahnung und Verschränkung auf möglichst vielen Ebenen ganz konkret so miteinander verbunden werden, dass Kriegsführung nicht mehr vorstellbar sein würde. Die komplexe und oft langatmige europäische Bürokratie mit ihrer Regulierungswut – Stichwort: Gurkenkrümmungsverordnung –, die bei vielen Erwachsenen heute auf große Skepsis und Kritik trifft, hätte so gesehen auch positive Aspekte. Und dessen ungeachtet ist „Europa“ bei den meisten Jugendlichen ein eher positiv besetzter Begriff, der zum Beispiel mit Reisefreiheit und attraktiven Möglichkeiten zum Kennenlernen neuer Freunde und Freundinnen verbunden wird.
Ich wünsche mir, dass möglichst viele Schülerinnen und Schüler im Vorfeld der Wahl gemeinsam geteilte Erfahrungen machen können. Möglichkeiten für Kontakt und Gespräch sind die vielfältigen Angebote der Europawochen im Mai: Initiativen wie die Erstwahlprofis, der Austausch mit den internationalen Partnerschulen oder als ganze Schulgemeinschaft ab der 7. Klasse bei einer Juniorwahl. Wie funktioniert eine gute Freundschaft? Es gibt manchmal heftigsten Streit, aber man ist klug genug, nach einer Schlichtung zu suchen und den Gesprächsfaden nicht abbrechen zu lassen. Europa-Bildung ist ein gutes schulisches Übungsfeld, um jene soziale Intelligenz zu erproben, die erforderlich ist, um sozialen Zusammenhalt zu leben und zu stärken: Diplomatie und Kompromissfähigkeit.
Zur Person
Prof. Dr. Tilman Grammes ist Professor (i. R.) für die Didaktik sozialwissenschaftlicher Fächer an der Fakultät für Erziehungswissenschaft und lehrt zu Fragen der Demokratiepädagogik und politischen Bildung.