Forschung zur „Operation Gomorrha“ 1943Die Bomben, ihre Deutung und ihre Folgen bis heute
24. Juli 2023, von Newsroom-Redaktion
Foto: Erinnerungswerk Hamburger Feuersturm/Privatbesitz Eduard Engel
Im Zweiten Weltkrieg brachte das nationalsozialistische Deutschland Tod und Zerstörung über die Welt. Die Alliierten flogen ihrerseits Angriffe auf deutsche Städte. Vor 80 Jahren wurden zwischen 24. Juli und 3. August große Teile Hamburgs zerstört. Hendrik Althoff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Deutsche Geschichte und hat zum Gedenken und den heutigen Erinnerungen an die sogenannte „Operation Gomorrha“ geforscht.
Die „Operation Gomorrha“ liegt inzwischen 80 Jahre zurück. Die Menschen, die heute noch von ihren Erlebnissen erzählen können, waren damals noch sehr jung. Welche Bedeutung haben ihre Erinnerungen dennoch für die Wissenschaft?
Tatsächlich hatten viele der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erstaunlich detaillierte Erinnerungen an die Kriegszeit. Doch das Ziel unserer Forschung, etwa im Rahmen des Interviewprojektes „Erinnerungswerk Hamburger Feuersturm“, war weniger, weitere Erkenntnisse über die damaligen Geschehnisse zu erhalten, die ja bereits umfassend erforscht sind. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ist vor allem interessant, wie die Zeitzeuginnen und -zeugen sich an den Zweiten Weltkrieg erinnern und wie sie diese Zeit rückblickend deuten.
Welche Ergebnisse sind besonders bemerkenswert?
Die meisten der Befragten begreifen sich zwar als Zeuginnen und Zeugen des Krieges, kaum aber des Nationalsozialismus. Vielmehr erinnern sie ihre Kindheit und Jugend als einen politikfreien Raum, vom NS-Regime und der Judenverfolgung haben sie wenig bis nichts mitbekommen. Das kann daran liegen, dass sie von ihren Eltern erfolgreich abgeschirmt wurden, aber auch Schuldgefühle und Verdrängung dürften hier wichtige Faktoren sein. Nur wenige haben ihre Sozialisierung in der Diktatur, auch ihre Tätigkeit bei den NSDAP-Jugendorganisationen, später im Leben aufgearbeitet und reflektiert.
Gerade dieser Umgang mit der eigenen Biografie macht die Interviews aus historischer Perspektive aufschlussreich – nicht mit Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus, sondern auf deren ‚zweite Geschichte‘: die Auseinandersetzung mit der Diktatur in den folgenden Jahrzehnten.
Das geht über die historische Perspektive hinaus, oder?
Da die Interviews auch die damalige Familiensituation und die weitere Biografie thematisieren, sind sie auch aus psychologischer Sicht hochinteressant. Wie sind Menschen mit diesen disruptiven, häufig traumatisierenden Kriegserfahrungen im späteren Leben umgegangen? Wovon hängt es ab, ob jemand diese Erlebnisse erfolgreich verarbeiten kann oder ob sie bis heute eine psychische Belastung darstellen? Solche Fragen lassen sich in den ausführlichen Gesprächen auf breiter Basis untersuchen. In Zukunft könnten sich auch noch andere Forschungsfragen stellen. Umso wichtiger ist es, dass diese Erinnerungsberichte nun in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg archiviert und zugänglich sind.
In vielen Gesprächen war ein großer Erzähldruck spürbar
Wie gehen Sie als Wissenschaftler insbesondere bei Interviews mit den Menschen vor, die bis heute unter den Erlebnissen leiden?
Die Gespräche orientierten sich an einem Leitfaden, sollten aber keine starren Befragungen sein. Das Ziel war immer, die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von sich aus erzählen zu lassen. In den meisten Fällen hat das sehr gut funktioniert, denn in vielen Familien war über die Kriegserlebnisse zuvor nur selten gesprochen worden. Die Eltern wollten oft die Kinder nicht belasten, die Kinder wiederum fragten nicht nach, weil sie keine schmerzhaften Erinnerungen wecken wollten. Nun gab es die Möglichkeit, einer interessierten Person ausführlich von damals zu berichten – und in vielen Gesprächen war ein großer Erzähldruck spürbar.
Weil das natürlich eine große Herausforderung für die Menschen ist, wurden alle Interviews im Projekt von Psychotherapeutinnen und -therapeuten geführt, die für die Thematisierung belastender Erinnerungen besonders sensibilisiert sind.
Welche Eckdaten zur Zerstörung sind inzwischen wissenschaftlich belegt?
Zwischen dem 24. Juli und dem 3. August 1943 wurde Hamburg zum Ziel schwerer Angriffe durch alliierte Bomberverbände. Dabei griff die britische Royal Air Force in fünf Nächten vor allem Wohngebiete an, die US-Luftwaffe bombardierte in zwei Tagesangriffen das Hafengebiet und die dortige Rüstungsindustrie.
Insgesamt wurden etwa 8.500 Tonnen Spreng- und Brandbomben auf Hamburg abgeworfen. Den Verlust in der Bausubstanz kann man inzwischen relativ genau beziffern: Unter anderem wurden einer Statistik der Hamburger Bauverwaltung von 1943 zufolge 277.330 Wohnungen, 580 Industriebetriebe, 24 Krankenhäuser und Kliniken sowie 58 Kirchen schwer beschädigt oder zerstört. Den verheerendsten Angriff flogen die britischen Luftstreitkräfte in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli mit mehr als 700 Bombern auf die Stadtteile östlich der Innenstadt. Im hier entstandenen sogenannten Feuersturm verloren etwa 30.000 Menschen ihr Leben. Die exakte Gesamtzahl der Toten der „Operation Gomorrha“ ist heute nicht mehr zu klären, sie liegt zwischen 35.000 und 40.000.
Wie hat sich das Erinnern an die „Operation Gomorrha“ seit dem Kriegsende verändert?
Im Gegensatz zum häufigen Beschweigen innerhalb der Familien war der Bombenkrieg in der Hamburger Öffentlichkeit immer präsent, wurde politisch und publizistisch intensiv erinnert. Die Deutungen haben sich im Laufe der Jahrzehnte aber stark gewandelt.
Noch im Krieg versuchte die NS-Propaganda, die Bombardierung als vereinende Kraftprobe für die NS-‚Volksgemeinschaft‘ zu beschwören. Bis weit in die Nachkriegszeit hinein hatte die Erinnerung die Form einer Heldengeschichte: Hamburg war die ‚unverzagte Stadt‘, die nach den ‚Terrorangriffen‘ wieder auferstanden war und so ihren Durchhaltewillen bewiesen hatte. In der Friedensbewegung der 1980er-Jahre diente die Bombardierung dann als abschreckendes Sinnbild des modernen Krieges und seiner verheerenden Folgen, gerade für die Zivilbevölkerung.
Gemeinsam war diesen Deutungen, dass der historisch-politische Zusammenhang der Angriffe zumeist ausgeblendet wurde. Erst in den 1990er-Jahren setzte sich eine Sichtweise durch, die die „Operation Gomorrha“ konsequent als eine Folge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des deutschen Vernichtungskrieges verstand. Dieses Bewusstsein ist auch für die heutige Erinnerung an die Angriffe grundlegend, in der zudem bislang marginalisierte Stimmen hörbar gemacht werden – etwa die Perspektive der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie der KZ-Häftlinge, die nach den Angriffen die Toten bergen und Blindgänger entschärfen mussten.
Wo kann man heute in Hamburg – auch abseits der bekannten Denkmäler – noch Spuren dieser Tage sehen?
Viele der Luftschutzbunker, die ab 1940 in Hamburg entstanden, sind heute noch im gesamten Stadtgebiet erhalten. An zahlreichen Häusern finden sich zudem Tontafeln, die auf den Wiederaufbau nach der Bombardierung hinweisen. In gewisser Weise lässt sich aber auch das gesamte Hamburger Stadtbild als dezentraler Erinnerungsort lesen – von der Neubebauung ganzer Stadtteile wie zum Beispiel Hammerbrook über die neu angelegte Durchgangsstraße quer durch die Innenstadt bis hin zum Grünzug Neu-Altona. Gerade weil die zerstörerischen Folgen des Bombenkriegs in Hamburg so omnipräsent waren und sind, spielte die „Operation Gomorrha“ immer eine besondere Rolle im historischen Bewusstsein der Stadt.
Hinweis der Redaktion: In einer vorherigen Version war von 58 zerstörten Schulen die Rede. Dieser Fehler wurde korrigiert.
Zur Person
Hendrik Althoff ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Deutsche Geschichte an der Fakultät für Geisteswissenschaften. Er forscht dort im Projekt „Überlebende Orte? Das Grundeigentum jüdischer Gemeinden zwischen Raub und Restitution (1930–1960)“, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird. Von 2019 bis 2022 koordinierte er das Interviewprojekt „Erinnerungswerk Hamburger Feuersturm“ am Adolf-Ernst-Meyer-Institut für Psychotherapie und ist neben Ulrich Lamparter und Christa Holstein Mitherausgeber des Buches „Hamburg im Feuersturm. Die Bombenangriffe vom Juli 1943 in der Erinnerung von Überlebenden und im Gedächtnis der Stadt“, das 2023 im Junius-Verlag erschienen ist. 2022 erhielt er für seine Übung „Keine Angst vor dem Archiv – Textquellen lesen und verstehen“ am Fachbereich Geschichte den Hamburger Lehrpreis.