Klimaproteste aus politikwissenschaftlicher SichtSchadet die „Letzte Generation“ der Klimabewegung?
11. Juli 2023, von Christina Krätzig
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65 Prozent der Deutschen halten den Klimaschutz für ein sehr wichtiges Thema, das hat eine Erhebung des Umweltbundesamts im vergangenen Jahr gezeigt. Anders hingegen verhält es sich mit den Aktionen der sogenannten „Letzten Generation“ und ähnlichen Gruppen: Etwa 80 Prozent der Bevölkerung lehnen diese ab. Wie die Wissenschaft die Wirkungen ihrer Aktivitäten einschätzt, erklärt Dr. Jan Wilkens vom Exzellenzcluster CLICCS an der Universität Hamburg.
Herr Wilkens, als Politikwissenschaftler beschäftigen Sie sich mit den gesellschaftlichen Entwicklungen vor dem Hintergrund des Klimawandels. Betrachten Sie die Aktionen im Rahmen der Klimaproteste mit Sorge?
Aktuell wird gern der Eindruck erweckt, dass solche Klimaproteste dem Klimaschutz schaden würden. Das lässt sich aber weder aus Umfragen direkt ablesen noch gibt es aktuell eine empirische Evidenz, die das belegen würde. Klimaschutz wird weiterhin als wichtig betrachtet. Die Behauptung ist ein erfolgreiches Framing. Sie täuscht darüber hinweg, dass die Klimapolitik national und international weiterhin ungenügend ist. Unternehmensstrategien und Konsumverhalten, welche immer noch auf dem Verbrauch von fossilen Energien beruhen, schaden dem Klimaschutz – nicht die Proteste der „Letzten Generation“.
Deren Forderungen können zudem kaum als radikal bezeichnet werden: Ein Tempolimit und ein 9-Euroticket bewegen sich nicht radikal außerhalb gesellschaftlicher Debatten. Ich halte die Forderungen für mehr als verständlich, auch wenn einzelne strategischen Entscheidungen und Argumentationen umstritten sind. Es liegt aber in der Natur von Protesten, Grenzen auszuloten. Dass dabei neue, oft als radikal wahrgenommene Protestformen entstehen, ist aus wissenschaftlicher Sicht eine normale Entwicklung.
Wie beurteilen Sie die Erfolgschance dieser Proteste? Werden sie den Klimaschutz voranbringen?
Im Exzellenzcluster „Climate, Climatic Change, and Society (CLICSS)“ haben wir im jüngsten Hamburg Climate Futures Outlook soziale Bewegungen und Klimaproteste als einen zentralen gesellschaftlichen Treiber im Hinblick auf eine erfolgreiche Dekarbonisierung identifiziert. Ihre Wirkungen sind insbesondere auf lange Sicht enorm wichtig. Sie haben nicht immer einen direkten Einfluss in dem Sinne, dass Klimaschutzmaßnahmen sofort umgesetzt werden. Ihr Erfolg besteht darin, Entscheiderinnen und Entscheider immer wieder an die Bedeutung von Klimaschutz zu erinnern. Sie halten den Druck zu handeln aufrecht.
Vor ein paar Jahren hat die Bewegung „Fridays for Future“ stark dazu beigetragen, dass der Klimaschutz in westlichen Ländern gesamtgesellschaftlich plötzlich wieder ein wichtiges Thema wurde. Was ist der Unterschied zu den jetzigen Protesten?
Die Großdemonstrationen von „Fridays for Future“ im Jahr 2019 haben ein wichtiges Signal an viele Akteurinnen und Akteure gesendet. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, dass das Wissen um die gegenwärtigen Klimaveränderungen in Gesellschaft und Politik präsent ist. Nun geht es um eine Umsetzung von Klimaschutz, um eine gesellschaftliche Transformation hin zu einer Dekarbonisierung. Doch eine Politik, welche die nötigen Veränderungen vorantreibt, ist ausgeblieben. Dadurch ist eine Ernüchterung eingetreten. Bei vielen ist der Eindruck entstanden, dass neue Formen des Protests nötig sind und spezifischere Forderungen klarer eingefordert werden müssen.
Natürlich wäre eine Vergrößerung der Proteste weiterhin ein starkes Signal. Doch auch große Proteste können von der Politik ignoriert werden. Wenn wir Erfolg im Sinne von Aufmerksamkeit betrachten, sind zahlenmäßig kleinere Gruppen ebenfalls erfolgreich. Das hat auch viel mit dem Narrativ, welches einen Protest einbettet und legitimiert, zu tun. Die aktuelle Ankündigung, vor allem Wohlhabende mit kommenden Protesten zu adressieren, hebt sich von vorherigen Aktionen ab und zeigt einen neuen, wichtigen Aspekt auf: die Verbindung zwischen sozialer Ungleichheit und Klimawandel.
Weiter Informationen
Fragen und Antworten rund um das Thema Klimawandel finden Sie auf der Webseite „Klimawandel: Fragen und Antworten“ des Exzellenzclusters CLICCS.